Der herabsteigende Gott
Versuch einer Christologie des Alten Testaments
Aus der tschechischen Vorlage "Bùh sestupující"
Berlin 1996
Für die Verbreitung auf digitalen Datenträgern
redigiert von Christof Lange (Stand der Bearbeitung: 10. August 2007)
Vorwort: Der herabsteigende Gott
§ 1 Der handelnde Gott
§ 2 Schwierigkeiten mit dem Alten Testament
§ 3 Strebt das Alte Testament wirklich zu Christus hin?
II. Der Messias
§ 4 Salben und Salbung
§ 5 Der Messlas - Titel und Rolle
§ 6 Die jüdische Messiaserwartung
§ 7 Messiaserwartungen außerhalb des Judentums
III. Die Christologie des Alten Testaments und ihre Wandlungen
§ 8 Jesus und das Alte Testament
§ 9 Vom Altertum zur Reformationszeit
§ 10 Von der Aufklärung zum Liberalismus
§ 11 Neue Ansätze - Rückkehr zum Alten Testament
IV. Methoden des Vorgehens
V. Der herabsteigende Gott
§ 16 Das Ende der Jesulogie
§ 17 Gott neigt sich zu uns herab
§ 18 Der herabsteigende Herr
§ 19 Die Kondeszendenz
§ 20 Der Doppelcharakter des Herabsteigens Gottes
VI. Die alttestamentlichen Anthropomorphismen
§ 21 Körperteile
§ 22 Tätigkeiten
§ 23 Das Vergleichen Gottes mit Tieren
§ 24 Das Vergleichen Gottes mit Gegenständen
VII. Die Lehre von den Ämtern Christi (munera Christi)
§ 25 Das Alte Testament, Josephus und Philo
§ 26 Vom Altertum bis zur Reformation
§ 27 Luther: Das zweifache Amt Christi
§ 28 Calvin: Das dreifache Amt Christi
§ 29 Die reformierte Orthodoxie
§ 30 Die Neuzeit: Von den Aufklärern bis zu Barth
§ 31 Die Vorzüge der Lehre von den Ämtern Christi
§ 32 Die Mängel der Lehre von den Ämtern Christi
VIII. Die dreifache Gestalt des erniedrigten Christus (triplex humilitatio Christi)
§ 33 Der herabsteigende Gott und der erniedrigte Christus
§ 34 Anstelle des Priesters das Opfer - das Lamm
§ 35 Anstelle des Königs der Knecht
§ 36 Anstelle des Profeten und Gesetzgebers der Verurteilte und Verdammte
§ 37 Unsere Hoffnung aufgrund des Herabsteigens Gottes und der Erniedrigung Christi
Anmerkungen
Ich möchte darüber aber ein verständliches und einfaches Buch schreiben. Darum will ich den Leser hier nicht belasten mit einer ermüdenden Aufzählung alles dessen, was schon irgendwo und wann zu diesem Thema geschrieben worden ist. Eher will ich versuchen, unsere einheimische, in manchem beachtenswerte Tradition zu sichten, die Ergebnisse der eigenen Arbeit zusammenzufassen und das Wichtigste und Wesentliche vorzulegen. Deshalb habe ich die Hinweise auf fremdsprachige Fachliteratur beschränkt und am häufigsten einfach die Bibel zitiert, bewußt verschiedene Übersetzungen. Manchmal ist die Kralitzer Übersetzung genauer, anderswo die ökumenische zutreffender. Des Öfteren benutzte ich die eigene Übersetzung aus dem Urtext, besonders dort, wo es nötig ist, durch die wörtliche Übersetzung dem Leser eine feine Bedeutungsschattierung zu zeigen. Die biblischen Namen sind überwiegend in der traditionellen Kralitzer Fassung belassen.
Ich weiß, daß andere, vor allem in den Nachbarländern, zu diesem Thema schon gründlichere und ausführlichere Bücher geschrieben haben und wahrscheinlich noch schreiben. So manche habe ich gelesen. Aber gerade durch die Ausführlichkeit entfernten sie sich oft von den Lesern, verdunkelten das Wesentliche und dienten so der Sache selbst wenig. Oft verwechselten sie auch, umklammert von der Vorstellung falscher Unvoreingenommenheit, kritische Sachlichkeit und nüchterne Wissenschaft, die allerdings nötig ist, mit Zweifeln bis hin zum Unglauben, und in der Furcht um ihren sogenannten "wissenschaftlichen Ruf" wagten sie keine eindeutigen Schlußfolgerungen und gingen bekenntnishaften Stellungnahmen aus dem Weg, zu denen die Bibel selbst uns führt.
Nur daß das Zeugnis des Alten Testaments von Christus und die Frage der Einheit der Bibel immer Sache des Glaubens ist, war und sein wird, oder anders gesagt, der Art und Weise, wie jemand mit der Bibel umgeht. Wer bereit ist, dem Alten Testament so zuzuhören, daß er aus ihm des lebendigen Gottes Stimme hört, die lebendige Anrede, den überrascht es nicht, wenn das Alte Testament auch von Christus zeugt. Wer in ihm objektiv Jesus finden will, also so, daß er ihn fest ergreifen und souverän prüfen kann, wird keinen Erfolg haben. Und so wünsche ich meinen Lesern nicht, daß sie Jesus Christus im Alten Testament finden, sondern daß Er selbst sie aus dem Alten Testament neu und lebendig anspricht.
Jan Heller
Gehen wir die jüdische Lehre vom letzten Gericht und dem Kommen des Reiches Gottes durch, also die Eschatologie oder die Lehre von den letzten Dingen, stellen wir fest, daß dem Messias hier wesentlich weniger Bedeutung beigelegt wird als im Neuen Testament. Nichtsdestoweniger kann das auch ein Werk der späteren Entwicklung und Bearbeitung sein. In neutestamentlicher Zeit war die Erwartung des Messias sehr lebendig unter den Juden. Daran knüpft sowohl die apostolische Predigt an, wie wir sie in der Apostelgeschichte aufgezeichnet finden, als auch die Apostelbriefe bzw. die Episteln. Beide belegen gerade aus dem Alten Testament, daß Jesus der erwartete Messias sei. Das sehen wir uns später noch im einzelnen an. Fassen wir das zusammen: Die Juden halten das Alte Testament, aber Jesus als Messias oder Christus lehnen sie ab.
Schon vom Altertum an gab es aber auch die Ansicht, daß zwar etwas von Jesus zu halten sei, nicht aber vom Alten Testament. Der erste bedeutende Verteidiger dieser Ansicht war Marcion. Auch über ihn erfahren wir später mehr. Auf dem gleichen Standpunkt standen aber auch einige liberale Theologen um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die auf diese Weise besonders in Deutschland den Boden für den nazistischen Antisemitismus vorbereiteten. Wir kommen noch darauf zurück. Aber beide, die Haltung der Juden und die Marcions und seiner Nachfolger, sind Randerscheinungen, die hier wahrscheinlich nicht extra widerlegt werden müssen.
Gehen wir jedoch davon aus, daß das Alte Testament und Jesus Christus irgendwie zusammengehören, entsteht die Frage, auf welche Weise. Vielleicht nur so, daß er gekommen ist und das Gesetz erfüllt hat, wie es besonders der Evangelist Matthäus unermüdlich wiederholt? Matthäus hat sicher recht. Als aber die späteren christlichen Theologen aus den Stellen, in denen das Neue Testament das Alte Testament zitiert, ein System machen wollten und Jesus darin wie in einer Schachtel haben wollten, zeigte sich, daß die Beziehungen zwischen dem Alten und Neuen Testament komplizierter und vielgestaltiger sind. Man muß hier zuerst die Methode klären, nach der man vorgehen will. Es gibt viele Sackgassen, gangbar erscheinen nur einige wenige, vor allem zwei.
Die erste Methode stammt aus dem Alten Testament selbst. Sie respektiert also die geschichtliche Zeitfolge, bzw. seine historische Priorität, und will zuerst durch eine sorgfältige Analyse feststellen, was in ihm weiterweist und höher, vor sich und über sich hinaus, worin das Alte Testament also jetzt wie unabgeschlossen ist, wo, wie und was in ihm nach Fortsetzung ruft und was in ihm überhaupt das Wesentliche und Zentrale ist. Und das versucht sie dann mit der Botschaft des Neuen Testaments zu vergleichen.
Diese Ausgangsposition hat einige Vorteile, allerdings auch Nachteile. Ein Vorteil ist, zumindest relativ, eine offene Möglichkeit des Gesprächs mit der Synagoge, also mit der jüdischen Theologie. Und auch das, daß hier die Gefahr geringer ist, das Alte Testament nach eigenen Vorstellungen zu verändern, es durch einen von außen herangetragenen Gesichtspunkt zu vergewaltigen. Trotzdem muß man wissen, daß gerade diese Gefahr immer besteht.
Ein Nachteil ist, daß die Erfüllung in Christus die alttestamentliche Verheißung übersteigt. Jesus paßt nicht in die alttestamentliche Verheißung wie eine Schraube in die dazugehörige Mutter, so daß wir ihn in ihr nach eigenem Gutdünken umdrehen könnten. Lehnten doch auch die, die die alttestamentliche Verheißung gut kannten, Jesus ab, vor allem deshalb wahrscheinlich, weil er ihren Vorstellungen vom Messias nicht entsprach, obwohl sie sich diese Vorstellungen über dem Alten Testament gebildet hatten. Daraus folgt: Auch eine sehr gründliche Kenntnis des Alten Testaments erspart uns nicht jenen entscheidenden Schritt des Glaubens, in Jesus von Nazareth den deutlich zu erkennen, der kommen sollte und erwartet wurde. Dieses letzte Erkennen, die letzte Weisheit, ist und bleibt eine Gabe des Heiligen Geistes auch dann, wenn der Leser durch die Kenntnis des Alten Testaments besser auf sie vorbereitet ist. Zumeist ist dieser Weg der reformierten Tradition nahe, die den Nachdruck auf die "Heilsgeschichte" legt.
Die lutherische und die Tradition der Erweckungsfrömmigkeit, die den Nachdruck auf die persönliche Frömmigkeit legen, gehen überwiegend einen anderen Weg. Sie gehen aus von der persönlichen Begegnung mit dem auferstandenen Herrn, die sich als Gabe des neuen Lebens, als Vergebung der Sünde und Rechtfertigung allein aus Glauben zeigt. Erst dann wird danach gefragt, woher der Retter kommt, und erkannt, daß Jesus der ist, über den schon das Alte Testament spricht und der dort erwartet wird. So daß sie eher vom Neuen Testament ausgehen zum Alten hin, als umgekehrt.
Auch diese Tradition hat ihre Vorteile und Nachteile. Ein Vorteil ist, daß hier die Entscheidung des Glaubens schon am Anfang des Weges steht und sich nicht hinausschieben oder umgehen läßt. Ein Nachteil könnte sein, daß die konzentrierte Sicht auf den auferstandenen Retter, wie es uns die neutestamentliche Botschaft zeigt, das Alte Testament in seiner ganzen Breite und Tiefe nicht mehr wahrnimmt, sondern nur in einer gewissen Auswahl. Man wird sich aus dem Alten Testament, möglicherweise in der besten Absicht und Aufrichtigkeit, letztlich doch nur das nehmen, was irgendwie in ein vorher gebildetes "Bild des Retters" paßt. Nur daß dadurch eine Reihe feiner Züge der Gestalt Jesu und seines Werkes verlorengehen, die erst durch einige alttestamentliche Zusammenhänge zum Leuchten und Klingen gebracht werden. Aber das ist vereinfacht gesagt.
In Wirklichkeit gehen diese beiden Methoden nicht ganz getrennt voneinander, sondern bisweilen sogar fließend ineinander über. Sie lassen sich kaum in reiner Gestalt finden. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß der Alttestamentler mehr zu dem Weg vom Alten zum Neuen Testament neigt, der Neutestamentler mehr zu dem Weg vom Neuen zum Alten Testament. Der Autor dieser Arbeit ist Alttestamentler. Und damit ist auch seine Wahl und Methode gegeben.
Einen äußerlichen Beweis gibt es nicht. Wer den Wald vor Bäumen nicht sieht, dem ist - wenigstens von außen - nicht zu helfen. Wer sich aber an die Arbeit macht und einen Ort findet, von dem aus die Struktur des Waldes sichtbar wird, kann hoffen, sich in ihm nicht zu verirren. Und darum geht es uns: einen Ort zu finden, von dem aus die Bibel für uns eine Struktur bekommt. Dieser Platz ist da, wo wir davon ausgehen, daß Gott lebt und handelt. Wenn wir diese Voraussetzung ablehnen, zerfällt für uns die ganze Bibel früher oder später in ein uneinheitliches Gewirr von Geschichten und Sagen, Hymnen und Stammbäumen und anderes mehr. Aber ihr gemeinsamer Nenner bleibt verborgen, und so bleibt auch vor unseren Augen alles durcheinander und ohne Sinn und Zweck.
Wir gehen also davon aus, daß es Gott gibt und daß er handelt. Das ist die Grundvoraussetzung dieses ganzen Buches, ohne die keine biblische Theologie und ohne die auch kein Versuch einer alttestamentlichen Christologie möglich ist. Nur daß sich daraus eine neue Frage ergibt: Wie handelt Gott denn? Die einen antworten: So. daß er den Menschen etwas gebietet und erwartet, daß sie ihm gehorchen. In der Bibel gehe es vor allem um Ethik, um Moral, um Sittlichkeit, um eine Zusammenstellung von Richtlinien für den Menschen und die Kirche, um die Zusammenfassung dessen, was Gott von uns erwartet. Das hören wir bis heute oft genug, und viel früher sagten das schon die Pharisäer und Gesetzeslehrer. Und die mußten doch die Bibel, genauer: das Alte Testament, verstanden haben! Nur selten war jemand so konsequent, daß er einsah, daß Gottes Ansprüche unerfüllbar sind. Welches menschliche Herz ist so voll Liebe zu Gott und dem Nächsten, daß in ihm kein Platz für etwas anderes wäre? Der Apostel Paulus durchlebte das in großer Tiefe bis zu dem Aufschrei: Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen aus diesem sterblichen Leibe? (Röm 7,24). Wenn wir die oben beschriebene Sicht der Bibel und den Weg der Gesetzeslehrer zusammen mit Paulus, Augustin und der Weltreformation ablehnen, haben wir dazu guten Grund: Wer ihn geht, endet entweder in Verzweiflung oder in Heuchelei. Und das ist nicht das Ziel, zu dem Gott uns führen will.
So zeigt sich also als einzig gangbarer Weg eine weitere Möglichkeit: Die Bibel vorerst zu sehen als Nachricht darüber, was Gott selbst für uns getan hat und bis heute tut, nicht, was wir für ihn tun. Selbstverständlich rufen uns Gottes Wirken, Gottes Liebe - nicht der Buchstabe des Gesetzes! - zur Dankbarkeit und Treue, aber das ist erst die andere Hälfte des Themas. Das Grundlegende der Botschaft des Alten Testaments und des Neuen Testaments ist: Gott handelt, greift ein, befreit, errettet. Und die Bezeugung des göttlichen Eingreifens, des befreienden Handelns Gottes ist Wesen und Kern aller biblischen Strukturen. Das ist der Ort, von dem her in den Wald hineingesehen werden muß.
Meine langjährige fachwissenschaftliche Arbeit zeigte mir, daß die Bibel nicht als zufällige Sammlung von Geschichten und Liedern, Sagen und Gesetzen entstanden ist, die nachträglich durch einen frommen Redaktor miteinander verknüpft worden sind. Frömmigkeit - oder sagen wir es ruhig ganz direkt: Glaube an einen lebendigen, handelnden Gott - wurde nicht nachträglich in die Bibel hineingetragen, sondern die Bibel ist aus ihr erwachsen, und zwar von Anfang an. Man kann sogar sagen, daß sich die Bibel als Glaubensbekenntnis kristallisierte. Alle, die ihre Worte zuerst vortrugen, wiederholten und dann auch niederschrieben und weitergaben oder tradierten, wollten nicht von alten Zeiten lehren oder ihre religiösen Gefühle zum Ausdruck bringen. Sie wollten bezeugen, was für sie und bei ihnen und auch schon früher bei Ihren Vorgängern Gott selbst getan hat und tut. Gottes Handeln stand im Mittelpunkt ihres Interesses und ist die wahre Grundlage ihres gesamten Zeugnisses.
Wenn wir die Bibel für etwas anderes halten als für ein Zeugnis von dem lebendigen, handelnden Gott, gehen wir mit ihr unangemessen und unrichtig um und machen es uns so selbst unmöglich, sie in der Tiefe zu verstehen, ihre Struktur zu erkennen, "in den Wald hineinzusehen".
Mit dem Alten Testament ist es viel schwieriger. Wo ist seine Mitte, von der her wir es verstehen könnten? Sollen wir uns an einem Geschichtsbild vom Anfang der Menschheit und des Lebens Israels orientieren? Es bleibt nichts anders übrig, wenn wir uns daran machen, die Geschichten des Alten Testaments wenigstens irgendwie vorläufig zu sichten und zu ordnen. Andere Stoffe als Geschichtsstoffe, wie etwa die Profeten, die Psalmen, die Weisheit usw. lassen sich dann in diesen Entwurf irgendwie einordnen. So entsteht das grundlegende einfachste System: Die Anfänge der Menschheit von Adam bis Tarah, die Erzvätergeschichten von Abraham bis Josef und die Geschichte Israels von der Herausführung aus Ägypten zur Zeit des Mose über die Richterzeit, die Zeit der Könige, die babylonische Gefangenschaft und die Heimkehr zur Zeit von Esra und Nehemia.
Es ist kein Zufall, daß die ganze Bibel und das Alte Testament besonders überwiegend ein Geschichtsbuch ist. Es geht hier nicht um Geschichtsschreibung. Es geht um mehr: Die alttestamentlichen Zeugen wissen, daß das Geschehen zwischen Gott und dem Menschen wichtig ist, keinesfalls nur Gott oder der Mensch an sich. Ihre gegenseitige Beziehung und deren Wandel, deren Dynamik, das ist das eigentliche Thema des Alten Testaments und die Ursache seiner geschichtlichen Gestalt.
Es ließe sich sagen, daß die alttestamentiichen Zeugen aus allem, was sich zwischen dem Menschen und Gott und besonders dann zwischen Gott und Israel abspielte, die Vorgänge auswählten, deren Bedeutung von der Vergangenheit in die Zukunft hinüberreicht und an denen sich also die Zukunft orientieren konnte und sollte. Geschichten, die nur die Vergangenheit aufzeichneten und keine Lehre für die Zukunft enthielten, wurden ausgelassen. Deshalb haben wir solche Schwierigkeiten, wenn wir die Geschichte Israels in ihrem ganzen Verlauf rekonstruieren wollen. Gerade da, wo der Geschichtsschreiber am neugierigsten ist, verstummt die Bibel plötzlich. Warum? Es war keine geistliche Lehre darin, wozu das also erzählen? - Ein Beispiel für viele: Das historisch bedeutsamste Ereignis der Regierungszeit des bekannten Königs Ahab war zweifellos die Gründung einer antiassyrischen Koalition mit vier anderen aramäischen Königen und die Abwehr des Agressors, des assyrischen Königs Salmanasser III, in der Schlacht bei Karkar im Jahre 853 v. u. Z. Das war ein großartiger politischer Erfolg. Der Welthistoriker sagt: wären Ahabs politische Weitsicht und seine militärische Entschlossenheit nicht gewesen, wäre das Ende des Nordreichs, zerstört um 722 v. u. Z. schon um hundert Jahre früher gekommen. Aber in der Bibel wird davon kein Wort gesagt. Hätten wir nicht Aufzeichnungen der Assyrer, wüßten wir von diesem Ereignis überhaupt nichts. Warum? Auch Menschen,die von Gott weit entfernt sind - und das war Ahab zweifellos, gelingt mitunter etwas. Aber darum soll man sich an ihnen noch kein Beispiel nehmen. Und so hüllt sich die Bibel, die Botschaft und Zeugnis bringen will, darüber einfach in Schweigen.
Warum aber schweigt das Alte Testament nicht lieber über all die Grausamkeiten und Unsittlichkeiten, angefangen von der Geschichte der Töchter Lots (Gen 19) bis hin zur Vergewaltigung von Dina (Gen 34), von der Ausrottung der Kanaaniter im Buch Josua bis hin zu der gebotenen Hinmordung der Amalekiter in 1.Sam 15? Sollten nicht wenigstens wir das nachträglich streichen und das Alte Testament so ein bißchen veredeln? Bestimmt nicht. Es geht nicht nur darum, daß wir uns dadurch selbst zu Herren des Wortes Gottes machten und entscheiden wollten, was für uns gut oder schlecht ist, ganz nach dem Rat der Schlange aus dem Paradies (Gen 3,5). Es geht darum, daß auch in diesen noch so rauhen Begebenheiten eine Lehre verborgen ist. Sonst stünden sie nicht in der Bibel (Röm 15,4). Wir dagegen verstehen sie nicht und fühlen so nur, wie sie unsere humanistische Konzeption problematisch machen, unsere billig freundlichen Vorstellungen von Gott und von der Welt, mit denen wir auch in der Bibel durchkommen wollen. Es geht nicht. Und es ist wahrscheinlich sehr lehrreich, wenn uns das Alte Testament durch solche Abschnitte beunruhigt und zu den grundlegenden Fragen zurückführt: Wer ist Gott und was sein Wille, und was der Mensch und seine Sünde. Ich will es nur vorläufig und in ungefähr sagen: In all diesen grausamen Abschnitten geht es um etwas sehr Wichtiges, um die Vorwegnahme des Kampfes gegen den letzten Feind. Mit jüdischem Nationalismus oder mit irgendeiner Lust im menschlichen Fleisch hat das nichts zu tun. Allerdings braucht jeder dieser Vorgänge seine ganz eigene Auslegung. Es gibt keinen Nachschlüssel, mit dem wir sie alle auf einmal leicht und schnell dechiffrieren könnten.
Fassen wir zusammen: Der Wert des Alten Testaments besteht nicht darin, was alles darin oder was alles nicht darin steht, sondern darin, daß es uns einführt in jenes große Geschehen zwischen Gott und dem Menschen, oder wenn Sie wollen, zwischen Gott und Israel, das seinen Höhepunt und seine Vollendung in der Ostergeschichte findet. Gottes große Taten weisen im Alten Testament über sich hinaus bis nach Golgatha. Und das ist wichtig: Wenn uns das Alte Testament trotz allem, was darin steht oder nicht steht, zu Christus führt, hat es in der christlichen Kirche seinen Platz. Wenn es nicht zu Christus führt, hat es für uns keine Bedeutung, "weil kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben ist, durch den sie selig werden könnten" (Apg 4,12).
Der Akzent liegt hier - erklärt Danìk selbst - auf Gottes Eingriffen: "Christus selbst, das ist Gott, der in den Lauf des Lebens und der Welt eingreift" Sobald wir das Subjekt austauschen und aus dem eingreifenden Gott den eingreifenden Menschen machen, auch wenn er sich Jesus nennt, stehen wir außerhalb des Bodens der biblischen Botschaft. Weiterhin ist zu beachten, daß Danìk keine Bedenken hatte, von der Sendung eines menschlichen Individuums zu sprechen. Es geht also nicht um eine gnostische oder doketische Idee des Menschen, der sich innerlich hervorbringen und so in sie mystisch eintreten läßt. Dann ginge es schon nicht mehr um Gottes Eingreifen, sondern um einen vom Menschen herbeigeführten Prozeß.
Gott hat also so eingegriffen, daß er ein menschliches Individuum sandte, Jesus von Nazareth. genannt Christus, an dem sich das Neue Testament orientiert. Das ist gut verständlich, und daran ist nichts Wunderbares. Grundlage des ganzen Neuen Testaments ist das Zeugnis von Jesus Christus, Das ist allgemein anerkannt. Und daß ihn Gott gesandt hat, sagt das Neue Testament an vielen Stellen ganz klar.
Aber zog oder strebte wirklich schon das Alte Testament zu ihm hin? Was, wenn es im Alten Testament ursprünglich um etwas anderes ging, etwa um die Geschichte Israels oder um eine Zusammenstellung profetischer religiöser Erfahrungen? Was, wenn Danìks These nur eine nachträgliche Konstruktion ist?
Gerade am Alten Testament läßt sich zeigen, daß die Sendung von Führern und Befreiern die grundlegendste Art der Hilfe Gottes ist. Als Israel aus Ägypten befreit werden sollte, sandte Gott Mose. Als es das Land einnehmen sollte, sandte Gott Josua. Als sich Israel gegen die Heiden verteidigen soll, sendet Gott Richter (Ri 2.16): Dann erweckte der HERR Richter, die sie erretteten aus der Hand ihrer Verderber (vgl. V. 18f). Und dann sendet Gott Könige, insonderheit David, und Profeten, Und als das Volk zu rückkehren soll aus Babel, erweckt Gott (Esr 1,5; Hag 1,14) Serubabel, Esra und Nehemia. Ganz allgemein kann man sagen: Schon im Alten Testament handelt Gott vor allem durch Menschen, die er sich erwählt, bevollmächtigt, ausrüstet und sendet. Diese ständige Aussendung bildet die Hauptlinie, das Rückgrat des Alten Testaments, von dem her es nur noch ein kleiner Schritt zum Neuen Testament ist.
Nur daß der Versucher nicht schläft und es ihm so gelang, bei vielen Lesern und Auslegern des Alten Testaments den Nachdruck von dem Sendenden auf den Gesandten zu verschieben, von Gottes Eingriff und Eingreifen auf den Ergriffenen und auf das, was mit ihm geschieht. Durch die ganze Geschichte der christlichen Theologie zieht sich das Ringen um das Alte Testament. Einige lehnten es überhaupt ab wie etwa Marcion. andere stutzten es zurecht durch eine allegorische Auslegung wie z.B. Origenes, und noch andere suchten sich nur das heraus, was den Menschen der Sünde beschuldigt und so die Notwendigkeit des verheißenen Erretters zeigt. Das sind alles Verengungen, Die oben erwähnte Auffassung Danìks ist weiter und tiefer.
Zu Christus ziehen im Alten Testament nicht nur einige Gestalten oder Ereignisse, einige Züge oder Abhandlungen, sondern das Alte Testament als Ganzes, also als ein einziges großes Zeugnis von dem handelnden und lebendigen Gott, der schon früher bei seinem Volk das Werk des Heils und der Erlösung begann. Dieses Heils- und Erlösungswerk ist im Alten Testament nicht beendet und abgeschlossen, sondern weist über sich hinaus und geht weiter in die Zukunft, da Gott selbst es auch vollendet. So sah ein anderer bedeutender Alttestamentler, Gerhard von Rad, die Christologie des Alten Testaments: "Die Frage nach dem Sinn dieses Geschichtsverlaufs wird im Lichte Jesu Christi noch einmal in einer großen Überschau und Grundsätzlichkeit aufgerollt, und zwar unter der Voraussetzung, daß dieser Geschichtsverlauf bisher noch gar nicht seinem eigenen Gehalt nach verstanden sei, denn er ist voller Hinweis auf das neutestamentliche Heilsgeschehen und ist von Anfang an 'für uns' aufgeschrieben (Röm 15,45)."[2]
Wer das Alte Testament aufmerksam liest, hört darin, wie alles, was Gott tut, seinem Volk immer neu zur Verheißung dessen wird, was Gott noch tun will. Die in der Gegenwart versagte Erfüllung der Hoffnungen, wird neu auf die Zukunft bezogen, und so richtet sich im ganzen Alten Testament der Blick ständig auf das entscheidende Eingreifen Gottes, das noch in der Zukunft liegt. In diesem Sinn ist das Alte Testament ein "offenes" Buch. Es ist nur die Frage, ob das Neue Testament oder der Talmud seine genuine Fortsetzung ist. Wir erwähnten schon wiederholt, daß es für die, die im Alten Testament vor allem Richtlinien und Gebote sehen, der Talmud sein wird. Wer aber im Alten Testament auf Gottes Handeln konzentriert ist, kann es nicht lassen, sich nach dem Ort seiner Vollendung umzusehen.
Ich möchte das noch einmal betonen: Wir haben keinen äußeren, formalen Beweis dafür, daß das Alte Testament auf Christus zustrebt und daß deshalb das Neue Testament seine genuine Fortsetzung und sein Höhepunkt ist. Das ist die Frage unseres Standpunktes und unserer Entscheidung, oder sagen wir geradezu - unseres Glaubens.
Eigentlich haben wir diese Entscheidung schon einzige Male gefällt, das erste Mal. als wir glaubten, die ganze Bibel sei ein Zeugnis von Gott. Wenn wir das nicht akzeptieren, dann versuchen wir, die Bibel anders zu verstehen als sie selbst es will. Eine weitere Entscheidung bezieht sich auf das Alte Testament und was in ihm das Wichtigste ist. Wenn wir uns dafür entscheiden, daß es die Gebote sind, die Ethik, das, was wir tun sollen, führt uns ein so verstandenes Altes Testament zum Judentum. Genauer gesagt, es führt uns zur orthodoxen Strömung des Judentums, das die organische Fortsetzung der alten Pharisäer ist. Die Sadduzäer nämlich lösten sich auf, und die Zeloten und Essener wurden von den Römern umgebracht.
Die Juden haben sicher ein volles Recht, das Alte Testament oder ihre Bibel, ihre Schrift (hebr. mikrajit) auf ihre Weise zu verstehen und anzunehmen, sie verstünden es am richtigsten und tiefsten. Die Christen haben keine äußeren Gegenbeweise. Wir können nur daran erinnern, daß sich gerade auch das Alte Testament verschieden verstehen läßt und daß es dabei immer auf den Standpunkt ankommt.
Unser Verständnis des Alten Testaments geht allerdings nicht von einer beliebigen eigenwilligen Entscheidung aus, sondern davon, wie es das Neue Testament versteht, Jesus, die Apostel, die Evangelisten. Jesus war in den Augen der jüdischen Orthodoxie ein apokalyptischer Schwärmer, ganz konzentriert auf das Kommen des neuen Zeitalters, der Königsherrschaft Gottes. Es ging ihm nicht so sehr - und die Juden fügen hinzu: leider - um das konkrete Israel, das von den Römern unterdrückt wurde, als vielmehr um ein imaginäres, zukünftiges Israel, das erst durch eine innere Erneuerung und durch das Wirken des Geistes Gottes entstehen soll. Das konkrete Leiden der konkreten Gemeinschaft, die doch Gottes Volk war, habe er nicht ernst genug genommen, wohingegen der wahre Messias, wenn er komme, die Befreiung vor allem für dieses konkrete Gottesvolk bringe, für Israel. Wer die Königsherrschaft Gottes nicht wieder aufrichtet (vgl. Apg 1,6) kann nicht der wahre Messias sein. Darauf beharren die orthodoxen Juden bis heute.
Was sollen wir dazu sagen? Wir fragen: Sind nicht die späteren Schichten und Texte des Alten Testaments auch auf das Kommen eines neuen Zeitalters konzentriert wie Jesus? Und was, wenn es auch in den älteren Schichten und Texten des Alten Testaments, in denen eine andere Terminologie benutzt wird. sachlich um dasselbe geht? Nämlich um die Befreiung von der Macht des Bösen, der Sünde und des Elends und um ein neues Leben vor Gott? Das ist Sache der Auffassung und des Standpunktes, eigentiich Sache des Glaubens.
Die Antwort, das Alte Testament strebe zu Christus hin, ist also zuerst ein Bekenntnis. Inwieweit dieses Bekentnis gleichzeitig auch eine Feststellung werden kann, ist die Frage, auf die zu antworten sich gerade dieses Buch bemüht.
Der Ausdruck ist eine Nominalableitung vom Verb ma¹ach = anstreichen, bestreichen. So z.B. wird die Wand eines Hauses mit Farbe oder Rötelstein gestrichen (Jer 22.14). Am häufigsten geht es um ein Bestreichen/Salben mit Öl. Eine Analyse der Stellen, in denen diese Wendung in der Bibel vorkommt, zeigt, daß es sich um eine bedeutende religiöse Verrichtung handelt. Die Salbung mit Öl ist eigentlich eine Weihe, also eine Absonderung und Bestimmung zum Dienst für Gott. Für die profane kosmetische Salbung hat das Hebräische einen anderen Ausdruck (súk; vgl. Dtn 28,40; 2.Sam 12,20; 14,2; 2.Chr 28,15; Mi 6,15; Hes 16,9; Rt 3,3; Dan 10,3). Der Kampf war eine heilige Tätigkeit. Deshalb salbte man sich offensichtlich, und dadurch wurden die Schilde der Kämpfer geweiht (2.Sam 1,21; Jes 21,5). Weiterhin salbte man die zum Opfer bestimmten Brotfladen mit Öl (Ex 29,2; Lev 2.4 u.a.) und den geheiligten Stein, der zum Gedenken an die Begegnung mit Gott aufgerichtet wurde (Gen 31.13). Der Altar im Zelt und das Gerät auf ihm wurden mit geheiligter Salbe in einer besonderen Zusammensetzung gesalbt (Ex 30,22-33), ähnlich wie auch der Hohepriester. Es ist wichtig, daß diese Salbe nicht eigenmächtig hergestellt und zu keinem anderen Zweck benutzt werden durfte und zwar bei Todesstrafe (Ex 30.32-33).
Von Personen wurden am häufigsten Könige gesalbt, seltener Priester und noch seltener Profeten. Nur die Stellen 1.Kön 19,16; 1. Chr 16,22 = Ps 105,15; Jes 61,1 berichten vom Salben von Profeten. Bei den Priestern geht es ausdrücklich nur um die Salbung Aarons und seiner Söhne (Ex 28,41; 29,7; 30,30; Lev 8,12.24). Direkt erwähnt werden bei den Königen die Salbung Sauls, Davids, Absaloms, Salomos, Jehus, Joas' und Joahas'. Darauf kommen wir noch zurück. Die Anregung zur Salbung geht deutlich immer von Gott selbst aus 1.Sam 10,1; 15,17; 2.Sam 12,7; Ps 89,21; 2.Kön 9,3; 6,12; 2.Chr 22.7 vgl. Ps 45,8; Jes 61,1). Ausführende sind Profeten (Samuel 1.Sam 9,16; 10,1; 16,3.12,13; andere 1.Kön 1,34f; 19,15f; 2.Kön 9,3.12f) oder Priester (1.Kön 1,34.39.45; 2.Chr 23,11; vgl. 2.Kön 11,12). Manchmal wird das Volk dabei erwähnt, das sich an dem Akt beteiligt (Ri 9,8.15; 2.Sam 2,4.7; 5,3.17; 19,11; 1.Kön 5,15; 2.Kön 11,12 = 2.Chr 23,11; 2.Kön 23,30). Die Salbung ist der Höhepunkt des Inthronisationsritus. Sein Einführungsteil ist der Bundesschluß (2.Sam 5,3 - er konnte auch auf die Salbung folgen vgl. 2.Kön 11,17). Ausführliche Nachrichten über den Ritus haben wir bei der Thronbesteigung Sauls (1.Sam 9,16; 10,1): Samuel goß ein Gefäß mit Öl über seinem Haupt aus (ein andermal befand sich das geheiligte Öl in einem Horn), küßte ihn und verkündete: Der HERR hat dich gesalbt zum Fürsten über sein Erbteil.
Ähnlich wird die Salbung Davids geschildert (1.Sam 16,13). Die kurze Bemerkung über Absalom läßt uns darüber im Unklaren, ob er wirklich gesalbt wurde, oder ob es nur um die übliche Titulatur ging (2.Sam 19,11). Gewichtige Umstände des Inthronisierungsritus erfahren wir bei der Schilderung der Thronbesteigung Salomos (1.Kön 1). Der Priester Zadok und der Profet Nathan salben ihn bei der heiligen Quelle Gihon, die mit ihrem Namen an einen der Paradiesströme erinnert (Gen 2.13). 1.Kön 1,39 wird erzählt, wie der Priester Zadok das Ölhorn aus dem Begegnungszelt nimmt und Salomo salbt und wie danach die Posaunen geblasen und gerufen wurde: "Es lebe der König Salomo". Und das Volk war fröhlich (V. 40). Die Salbung ist offenbar der entscheidende Akt aus rechtlicher Sicht: Wenn Salomo bereits gesalbt wurde, verlor Adonias Aufstand jedwede Möglichkeit zu weiterem geschickten Fortgang auf rechtlicher Grundlage (1.Kön 1,41-50). Weitere wichtige Umstände erfahren wir aus der Geschichte von der Thronbesteigung des Königs Joas in 2.Kön 11. Joas Überlebte als einziger die Ermordung der königlichen Familie. Er wurde sieben Jahre lang im Tempel versteckt. Dann stürzte der Hohepriester Jojada, Joas' Onkel, durch einen geschickten Schachzug die grausame Königin Atalja und setzte den einzigen legitimen Erben, den siebenjährigen Joas auf den Thron. Geschildert wird dort, wie er "den Königssohn herausführte und ihm eine Krone aufsetzte", genauer ein Diadem oder ein königliches Stirnband. Dann übergab er ihm das "Zeugnis", vielleicht ein königliches Protokoll. Dann setzten sie ihn zum König ein und salbten ihn. Offensichtlich salbte ihn Jojada, aber die Mehrzahl der Überlieferungen im ursprünglichen hebräischen Wortlaut betont, daß es nach dem gemeinsamen Willen aller geschah. Darauf klatschten sie in die Hände und riefen: "Es lebe der König!" (V. 12). Die folgenden Verse sprechen noch über das Blasen der Trompeten und über das königliche Gefolge. - Über die übrigen Könige gibt es nur kurze Anmerkungen, soweit ihre Salbung überhaupt ausdrücklich angeführt wird, so bei Jehu 1.Kön 19,16; 2.Kön 9,3.6.12; 2.Chr 22,7 und bei Joahas 2.Kön 23,30. Eine Ausnahme bildet der Bericht über die Salbung des nichtisraelitischen Königs Hasael in Damaskus, die allerdings mit den Elia- und Elisageschichten, zusammenhängt (1.Kön 19,5).
Woher die Sitte kam, in Israel einen König zu salben, wissen wir indessen nicht. Die Ausleger haben unterschiedliche Meinungen. Sie suchen in Kanaan, bei den Hethitern und in Ägypten.[3] Im Alten Testament werden durchweg drei Seiten der Salbung beschrieben:
1. Gottes Erwählung dessen, der gesalbt werden soll.
2. Die Salbung wird durch einen von Gott Bevollmächtigten vollzogen, durch einen Profeten oder Priester, und die Anwesenden äußern ihre Zustimmung durch Händeklatschen und die Proklamation "Es lebe der König" u.ä.
3. In einzelnen, namentlich älteren Erzählungen, ist die Salbung mit einer inneren Ausrüstung mit dem Geist Gottes verbunden (1.Sam 16,13f).
Auch wo nicht vom Geist gesprochen wird, ist anzunehmen, daß die Salbung als Ausdruck der Bevollmächtigung durch den Geist Gottes verstanden wurde. Daß dem manchmal in Wirklichkeit nicht so war, ist schon eine andere Frage. Aber im Ganzen läßt sich sagen, daß das Öl hier Abbild und Erinnerung ist an den heiligenden Geist Gottes. Das stimmt übrigens mit der alten Auslegungstradition überein, die in der Olive oder im Öl einen Hinweis auf den Geist sah. In der Rebe oder im Wein einen Hinweis auf das Blut und im Feigenbaum oder in der Feige einen Hinweis auf das Gesetz. Deshalb war jede Salbung vor allen Dingen eine Erinnerung an Gottes Freiheit bei der Wahl und bei der inneren Ausrüstung des Königs, auch wenn es um einen Erbkönig, namentlich der Daviddynastie in Jerusalem ging. Ein rechtmäßiger König Israels oder Judas war nur der, den Gott selbst erwählt und mit seinem Geist ausgerüstet hatte. So erinnert der bloße Akt der Salbung des Königs in Israel daran, daß jeder König ohne Gottes Zustimmung und Begabung ein Usurpator ist. Die Salbungszeremonie enthält also in sich selbst mit dem Hinweis auf Gott auch eine expressive kritisch-demokratische Ladung: Ein König muß anerkannt werden, und ihm gebührt Gehorsam als einem Werkzeug Gottes, nicht der Macht wegen, die ihm seine Stellung verleiht. Wenn er nicht Gottes Werkzeug ist und es auch nicht sein will, verliert er die Berechtigung zur Herrschaft. Das wird anhand der Geschichte Sauls anschaulich gezeigt.
Der Ursprung des Titels ist klar. Er stammt offenkundig vom
Inthronisationsritus her, in dessen Mittelpunkt die Salbung mit heiligem Öl stand, wie im vorhergehenden Kapitel ausfürlich besprochen. Zu Anfang ging es wahrscheinlich um den Titel der Daviddynastie in Jerusalem, der sich später auch auf den Norden ausdehnte. Er vereinigt in sich folgende Gesichtspunkte:
1. Die ausschließliche Beziehung zu Gott, dessen ureigenes Werkzeug der "Gesalbte des Herrn" ist. Diese Auffassung hängt notwendig mit dem Bund zusammen, den Gott mit David geschlossen hat, erwachsen aus der Verheißung in 2.Sam 7,8-16 und ausdrücklich erwähnt 2.Sam 23,5, Ps 89,4.29.35.
2.Der Beiname "des Herrn" stellt den Gesalbten in Gegensatz zu allen anderen Königen des alten Orients. Die wurden in der Regel für heilige Bevollmächtigte gehalten (besonders in Mesopotamien) oder sogar für Vertreter, ja selbst für Verkörperungen der Götter (besonders in Ägypten). Deshalb nahmen sie sich im Namen der Götter das Recht der Herrschaft nicht nur über die Leiber, sondern auch über Glauben und Gewissen ihrer Untertanen. Solches Gottkönigtum lehnt das Alte Testament ab. Es macht einen Unterschied zwischen wirklicher Gottesherrschaft und einer solchen, die eigenmächtig göttliche Ansprüche erhebt, also weder fromm noch wirklich göttlich ist. Wann immer ein israelitischer König sich priesterlicher Rechte bemächtigen wollte und so den Gottkönigen der Nachbarvölker ähnlich werden, wurde er zurückgewiesen und bestraft (z.B. Saul 1.Sam 13,8-14 oder Usia 2.Chr 26,16-20).
3. Erst im Verlauf der Zeit wurde die Vorstellung vom Weltberg in Polemik gegen die Heiden auf den Berg Zion übertragen. Das war der Berg, von dem aus der höchste Gott, hier selbstverständlich Jahwe, über die Völker der ganzen Welt regiert und zwar durch die Vermittlung seines gesalbten Königs. So gerät der Titel "Gesalbter" auf eine neue Ebene. Er wird veralIgemeinert und auf den Herrscher über die ganze Welt in der letzten Zeit bezogen. Er wird eschatologisiert. Der Träger des Titels ist nun der Gesalbte schlechthin, niemals nur einer unter anderen. Er ist der erwartete König des neuen Zeitalters, der Messias - der Heiland oder Retter. Hierher gehören einige Profetenworte über einen neuen David und hauptsächlich einige Stellen aus den Psalmen.
Die Psalmworte über den Gesalbten Gottes verdienen besondere Aufmerksamkeit. Im Vordergrund stehen die so genannten Königspsalmen, besonders die Psalmen 2, 18. 20, 89, 132 und wahrscheinlich noch einige andere. Diese befassen sich ausdrückich mit dem davidischen König und seiner Herrschaft in Jerusalem. Der Gesalbte wird aber auch in anderen Psalmen in Bitten, Gebeten und Bekenntnissen erwähnt, z.B. Ps 28; 89 auch in Liedern wie 1.Sam 2,10 oder Hab 3,13. Gerade Psalmentexte bilden eine Art Brücke vom Jerusalemer Kult in die eschatologische Zukunft und zeigen so auch den Wandel in der Auffassung vom Gesalbten Gottes. Der frühere Titel des Königs von Jerusalem wurde zum Titel des erwarteten und ersehnten Herrschers als Verkörperung der Hoffnung des unterdrückten Volkes.
Die Profeten erwähnen den Gesalbten nur Jes 45,1; Hab 3,13 und Dan 9,25f. Die Texte des Danielbuches gehören in die Apokalyptik, der Habakuktext hat hymnischen, psalmenartigen Charakter und wurde schon erwähnt.
Dafür ist Jes 45,1 eine beachtenswerte Stelle: "Dies spricht der Herr über seinen Gesalbten, über Kyros: Ich habe ihn bei seiner rechten Hand ergriffen, niederzutreten vor ihm die Völker". So bezieht sich die einzige Profetenstelle über den Gesalbten Gottes eigentlich auf den heidnischen König Kyros, den Herrscher von Persien und Medien und den Eroberer Babylons. Für uns, die wir das Neue Testament lesen und Jesu Wort kennen, daß die Schriften, selbstverständlich das Alte Testament, von ihm Zeugnis geben (Joh 5,39), ist das überraschend. Wir hätten erwartet, daß gerade die Profetenbücher voller Vorhersagen und Verheißungen des Messias sein würden. Aber in Wirklichkeit ist es anders. Warum? Ich will versuchen, darauf eine kurze und deshalb nur annähernde Antwort zu geben: Die Könige mit dem Titel "Gesalbter des Herrn" von David an bis zum Fall Jerusalems im Jahr 586 machten diesem Titel so viel Schande, daß die Profeten, die Kritiker dieser Könige, ihn nicht mehr verwenden mochten. Sie sprechen lieber von einem neuen David oder von Davids Sohn, von dem Herzog oder Fürsten des zukünftigen Zeitalters, aber den Titel "Gesalbter des Herrn" - Messias lassen sie beiseite.
Erst die Apokalyptik (Dan 9,25f) und danach die deuterokanonische Literatur (vgl. z.B. Sir 46,19: 2.Makk 1,10; 3,30 usw.), die Apokryphen und die Pseudepigraphen, nehmen den Messiastitel wieder auf. Aber sie verstehen darunter vor allem den Führer im letzten eschatologischen Kampf, den Verbesserer der politischen Verhältnisse und Erneuerer der jüdischen Unabhängigkeit. Kurz und gut - in der Sicht der Profeten hatten sich die "Gesalbten des Herrn" nicht bewährt. Erinnern wir uns daran, daß auch Jesus den Titel meidet.
Um so aufsehenerregender ist die Bemerkung über den Gesalbten Kyros in Jes 45,1. Ich verstehe sie vor allem polemisch. Kyros steht hier im Gegensatz zu den judäischen und israelitischen Königen vorexilischer Zeit, zu den engstirnigen Patrioten und oft auch eigenmächtigen Gewaltmenschen, zu den Totengräbern der Unabhängigkeit. Für Gottes Gerechtigkeit traten sie nicht ein, obwohl sie dazu berufen und verpflichtet waren. Demgegenüber erfüllt Kyros, der den Gott Israels selbstverständlich nicht kennt (vgl. Jes 45,5), hier die Aufgabe des Erneuerers der Gerechtigkeit und des Befreiers Israels aus babylonischer Gefangenschaft.
Fassen wir zusammen: "Der Gesalbte des HERRN" ist ein geläufiger Königstitel. Solche Gesalbte gab es im Alten Testament und in der Geschichte Israels viele, eigentlich waren alle Könige Gesalbte, unter Umständen sogar die Hohenpriester. Bei diesen ist es nicht so eindeutig. Einige Forscher vermuten, daß der Titel nur im Einzelfall auf den Hohenpriester übertragen wurde und erst nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft, als die Heimkehrer keine Könige mehr hatten.
Wichtig ist, daß mit dem Titel "Gesalbter des HERRN" untrennbar verbunden der Auftrag ist, Gottes Gesandter, sein Werkzeug, sein Zeuge zu sein, Gottes Willen zu erfüllen. Es ist nicht bloß ein Ehrentitel und in Wirklichkeit leer, sondern es ist immer eine Verpflichtung, eine Sendung, ein Auftrag, so ähnlich wie Richter, Profet, Priester usw. Mit jeder solchen Bezeichnung ist ein ganzer Komplex konkreter Pflichten verbunden. Deshalb ist es exakter, hier von einer Rolle zu sprechen. Das ist selbstverständlich ein moderner Ausdruck, den wir in der Bibel nicht finden, aber er erklärt ziemlich genau, worum es geht. Kyros übernahm diese Rolle in dem Moment, wo er anfing sich für die Gerechtigkeit einzusetzen ohne Rücksicht darauf, welchen Titel man ihm gab.
Die Mehrzahl der Könige, der Gesalbten des HERRN, erfüllte ihre Aufgabe, ihre Sendung allerdings schlecht, beziehungsweise sie wurden ihrer Rolle nicht gerecht. Nur einige wenige erfüllten sie oder spielten sie etwas besser, etwa die frommen Könige Hiskia und Josia, aber vollkommen erfüllte sie keine der alttestamentlichen Gestalten. AIle versagten mehr oder weniger, auch der sonst vorbildliche David. Immer fehlte etwas, immer blieben sie ihrer Rolle etwas schuldig. Erst das Neue Testament weiß von einem, der sie ganz und gar erfüllte und ausfüllte, weil sie ihm - modern gesagt - "auf den Leib geschrieben war". Oder genauer und besser: Er war der einzige, der diese Rolle ganz ohne Vorbehalt und Anspruch übernahm, in völliger Selbstaufgabe und vollkommener Liebe sowohl zu dem, der ihn gesandt hatte, als auch zu denen, zu denen er gesandt worden war (Phil 2,6-11). Er gab der Messiasrolle dadurch aber auch eine neue Füllung und erhob sie auf eine neue Ebene. Das aber gehört schon in die Theologie des Neuen und nicht des Alten Testaments.
Hätten wir nicht noch andere Stellen neben der jüdischen Apokalyptik und vor allem: hätten wir nicht das Neue Testament, könnte man zu der Ansicht kommen, daß die Gestalt des Messias im späthellenistischen Judentum kaum existierte. Das hat offensichtlich zwei Gründe. Der erste Grund ist die Ausbreitung des jüdischen Weltbildes, das auch die Eschatologie beeinflußte. Damit zusammenhängt die ständig deutlicher werdende Vorstellung von einer großen endgültigen Katastrofe als absolutes Wunder Gottes. Wo es um weltgeschichtliche Ereignisse von großem Ausmaß ging, um die Macht der griechischen Diadochen, um die griechische Weltkultur, um das römische Weltregiment und um die große Überwindung all dieser Mächte, also wo man das machtvolle Eingreifen Gottes selbst über die Grenzen der Erdteile und Völker hinaus erwartete, welche Bedeutung könnte da noch ein König aus dem Geschlecht Davids haben, der nach früheren Vorstellungen vor allem an Palästina gebunden war?
Auch der zweite Grund hängt mit der historischen Situation zusammen, aber er hat anderen Charakter. Von den Makkabäerkriegen an stand das mächtige Fürstengeschlecht der Makkabäer im Vordergrund der Geschichte Palästinas, das von religiösen Kreisen für messianisch gehalten wurde. In der letzten Zeit Jonathans, Simons und Hyrkan I. und dann wieder zur Zeit Alexandras glaubten sicher viele Menschen schon in messianischer Zeit zu leben, wenn sie von Gott noch wunderbarere und größere Dinge erwarteten, dann gehörte dazu kaum ein König aus Davids Geschlecht. Der Ruhm des Stammes Levi, aus dem die Makkabäer stammten, begann den Ruhm des Stammes Juda zu überschatten, allen alttestamentlichen Verheißungen zum Trotz. Auch Josephus Flavius (Ant XIII, 299 B I 68f) sagt noch in der Zeit nach den Kriegen Vespasians, also mehr als 200 Jahre nach dem Makkabaerkrieg, über Hyrkan, er habe in sich die königliche, die hohepriesterliche und die profetische Würde miteinander verbunden (vgl. ebenso Test. Levi 8). So wurde die Messiaserwartung auf den Stamm Levi übertragen.
Dennoch wäre es unrichtig zu vermuten, die Messiaserwartung sei in neutestamentlicher Zeit verschwunden. Die Vorstellung, daß die Jahrhundertwende mit einem wunderbaren Eingreifen Gottes anfinge, war offensichtlich hauptsächlich in den gebildeten Kreisen der damaligen Judenschaft zuhnause. Demgegenüber schauten die breiten Schichten des Volks weiter nach einem mächtigen irdischen König aus. Mit dem Fall der Makkabäer verschwand der messianische Ruhm dieses Geschlechtes, ja in den Kreisen der "Frommen", also unter den Pharisäern, begann man die Makkabäer für selbsternannte Usurpatoren zu halten. Und gerade in diesen Kreisen, unter den Gesetzeskundigen, wurde die Erinnerung an die Verheißung der alten Profeten über einen Wessias aus Davids Geschlecht lebendig. Am deutlichsten ist das Bild von einem davidischen Messias in den Psalmen Salomos 17 und 18 gezeichnet. Aus einer späteren Zeit stammen die messianischen Aussagen des Henochbuches. Besonders aber zeigen die Evangelien, daß die Erwartung des Sohnes Davids im Schwerpunkt der Hoffnung breiter Schichten des Volkes stand. Die eigentümlichen Vorstellungen von der Zukunft, die die Pharisäer zur Zeit des Herodes hatten, beschreibt Josephus Flavius (Ant. XVII. 44.1f). Nicht ganz zuverlässig ist die Behauptung, Simon ben Setach, ein Rabbiner etwa zu Ende der Makkabäerzeit, habe auf Grund des Hohenliedes 5,2 behauptet, der Messias erscheine zuerst 400 Männern in der moabitischen Wüste[4]. Das Erwachen einer lebendigen Messiaserwartung wird auch bewiesen durch das Auftreten von Revolutionären von Judas, dem Galiläer angefangen bis hin zu Barkochba, die sich zum Messias erklärten oder als Messias bezeichnet wurden.
Hier ist es an der Zeit, einen Exkurs über die Geschichte der Zeloten zu machen, der Partei der politischen Radikalen in neutestamentlicher Zeit. Es scheint, daß der "Räuberhauptmann" (griechisch = archilestes) Hiskija, den Herodes hinrichten ließ (Jos. Flavius Ant. XVI,159, B.I.204), der Führer der nationalistischen Radikalen war. Sein Sohn war vielleicht Judas von Gamala, genannt der Galiläer, der (nach Jos Flavius Ant. XVII,271) nach Herodes Tod einen Aufstand in Seforis organisierte und gemeinsam mit dem Pharisäer Zaddok die Partei der Zeloten gründete, zu deutsch: "die Eiferer" - nämlich Eiferer für Gott, Gottes Gesetz und Gottes Gerechtigkeit (Apg 5.37). Seine Söhne Jakob und Simon wurden als Aufrührer hingerichtet unter Tiberius Alexander um das Jahr 48 herum. Das war der römische Statthalter in Palästina (vgl. Jos Flavius Ant. XX,102). Der dritte Sohn des Judas, Menahem, hatte offensichtlich eine sehr wichtige Aufgabe im Anfang des großen Vespasianischen Krieges. Als er im Jahre 66 den ersten Aufruhr in Jerusalem entfachte, tat er das dadurch, daß er in die Stadt einzog wie ein König in seidenem, golddurchwirkten Gewand. Ein weiterer Nachkomme des Judas von Gamaia mit Namen Eleasar war Führer des letzten verzweifelten Widerstandes in der Feste Massada. - Viele Exegeten deuten die "Gewalttäter" aus Mt 11,12 auf die Zeloten. Nach zelotischen Schriften hingegen ist zwecklos zu suchen; sie waren anscheinend Männer der Tat, die nur das Notwendigste geschrieben haben. So sind z.B. Briefe von Bar Kochba erhalten.
Die griechisch erhaltene "Himmelfahrt des Mose", die manchmal als zelotische Schrift ausgegeben wurde, stammt eher aus pharisäischen Kreisen. Bei dem christlichen Schriftsteller Justin, dem Märtyrer (Dialog 80) und bei Hegesipp (nach Euseb IV,22,7) werden die Zeloten als "Galiläer" bezeichnet. Das steht möglicherweise im Hintergrund von Mt 26,69-75; Mk 14,66-72; Lk 22,54-62, wo überall eine Magd Petrus beschuldigt, ein Galiläer zu sein oder zu ihnen zu gehören. Es stimmt das auch mit dem Versuch überein, Jesus als politischen Aufrührer zu verurteilen.
Wenn wir die vorläufig erreichbaren Angaben über Messiasse der neutestamentiichen Zeit übersichtlich ordnen, ergibt sich folgende Tabelle:
1. Juda von Gamala, genannt der Galiläer, von dem schon die Rede war.
2.Der 'Profet' Theudas nach Cuspius Fadus um das Jahr 44 herum (vgl. Jos. Flav., Ant. XX,97f; Apg 5,36).
3. Der 'Ägypter', offensichtlich ein Mann, der sich entweder als neuer Mose ausgab oder die Herausführung aus Ägypten nachahmen wollte. Er trat unter dem Statthalter Felix auf zwischen 52-60 u.Z. (Jos. Flav., Ant. XX,169f; Apg 21,38).
4. Ein Aufrührer unbekannten Namens unter dem Statthalter Festus, also etwa zwischen 60-62 u.Z. (Jos. Flav. Ant. XX,188).
5. Bar Kochba, in der Übersetzung "Sternensohn", so genannt wahrscheinlich nach Num 24,17. Selbst der berühmte Rabbi Akiba begüßte ihn als Messias. Er war der bekannte Anführer des antirömischen Aufstandes zur Zeit des Kaisers Hadrian 132-135. Nach dem tragischen Ende dieses Aufstands wurde Judäa nicht "nur verwüstet, sondern den Juden der Aufenthalt dort verboten, namentlich in Jerusalem, so daß das Leben der Synagoge sich anderswohin verlagerte. Es ist begreiflich, daß die Erwartung eines Messias als nationalen Befreier dadurch wesentlich geschwächt wurde.
Im allgemeinen Bewütsein blieb sie, aber die Grundzüge dieser Gestalt verblaßten. In der jüdischen Gebetsliturgie wird zwar des öfteren des Messias gedacht, aber nur in ganz allgemeinen Wendungen. Im wesentlichen ist er ein Bestandteil der Apokalyptik unter anderen Dingen und Gestalten. In den Vordergrund gelangte wiederum das Interessse an der Zeitenwende, an Gottes Reich und seinem Kommen. Der Messias wird entpolitisiert und eschatologisiert, so auch im jüdischen 18-Bitten-Gebet (¹emone esre, Bitte 15, in babylonischem Wortlaut): "Den Sproß Davids laß bald aufwachsen und daß sich sein Horn aufrichte durch deine Hilfe." Das ist offensichtlich ein Widerhall von 1.Sam 2,10; Ps 112,9; 132,17. - Im Jerusalemer Wortlaut ist es ein wenig abgeändert: "Erbarme dich. Herr... über das Reich Davids, des Gesalbten deiner Gerechtigkeit." Auch in dem sehr geläufigen Kaddischgebet beten die ]uden: "Sein Heil breche an, und es komme sein Gesalbter."
Fassen wir zusammen, wie die jüdische Messiaserwartung zur Zeit Jesu aussah: Im allgemeinen wurde ein Messias aus dem Geschlecht Davids, also Im Einklang mit einer Reihe alttestamentiicher Profezeiungen, erwartet. Damit zusammen hängt seine Herkunft aus Bethlehem, der Geburtsstadt Davids, wie besonders aus Mi 5,1 (vgl. Mt 2.5 und Joh 7,41f) hervorgeht. Neben dem Titel Messias kommt auch der Titel Menahem = Tröster vor, erwähnt auch in Joh 14,16.26; 16,7; (1.Joh 2,1) und im Neuen Testament mit dem Heiligen Geist gleichgesetzt. Es ist interessant, daß ausgerechnet der dritte Sohn Judas aus Gamala bzw. des Galiläers, des Begründers der Zelotenbewegung, sich Menahem nannte und eine wichtige Rolle beim Ausbruch des Aufstands zur Zeit Vespasians spielte. Seinen Einzug in Jerusalem haben wir schon erwähnt. Hinter seinem Namen Menahem = Tröster steht offensichtlich Gen 5,29. Dort wird vom Urvater Noah gesagt: "Der wird uns trösten in unserer Mühe und Arbeit" (eigentlich bedeutet Noah hebräisch "Ruhe", der hebräische Text erklärt den Namen aber als "Trost". Wie Noah, der als erster nach dem Tod Adams geboren wurde, den Paradiesfluch von der Menschheit nahmen sollte, so ist jetzt dieselbe Erwartung auf den Messias übertragen, und er trägt deshalb den Titel "Tröster".
Der Titel "Sohn Gottes", in der nichtjüdischen Welt häufig, ist im Judentum selten. Er kommt zwar im Alten Testament vor in Ps 2,7 vgl. Ps 89.27f, aber er roch den Juden anscheinend allzusehr nach Heidentum. Der Titel "Erlöser" oder "Heiland", griechisch soter, ist bei den Juden vor allem Titel Gottes selbst (vgl. Jes 43,3.11; 42,21 usw.). Der Titel "Menschensohn" hat einen deutlichen apokalyptischen Beigeschmack, seine Wurzeln liegen in Dan 7,13 und weiter in dem ausgesprochen apokalyptischen Text 4.Esra 13,3.5.12.25(32)51. Es ist aber interessant, daß Jesus diesen Titel vorzugsweise für sich gebraucht und bis auf die Zitate im Prozeß vor dem Hohen Rat besonders im Zusammenhang mit seinem Leiden und Sterben. Eine ähnliche Beziehung zwischen dem Menschsein Jesu (begründet mit Ps 8,5-7) und seinem Leiden sieht auch der Hebräerbrief, allerdings vor dem apokalyptischen Horizont. daß diesem Menschen das All Untertan sein wird (2,5-9).
Im Ganzen läßt sich sagen, daß der Messias nach jüdischer Auffassung nur und nur für Israel da ist. Mit den Heiden hat er keine innere Verbindung, nur daß er sie unter sein Joch beugt und sie von den Enden der Erde kommen, um seine Herrlichkeit zu bewundern (Ps Sal 17,24.35 vgl. Ps 2 und Jes 11,4). Fast nirgendwo wird er als Richter geschildert, sondern fortwährend als Krieger. Vereinzelte Züge eines Richters erwähnen nur 2.Bar 40,72a; 4.Esra 12,31; 13.37f. Sein Sieg über die Feinde ist Voraussetzung seines glücklichen Regiments in Palästina. Seine Wirkungsstätte ist Jerusalem, der Berg Zion, und nur in den Bildreden Henochs ist es die Erde im allgemeinen.
Der Hauptakzent liegt auf der Schilderung des Charakters seiner Herrschaft. Er versammelt die Stämme Israels und siedelt sie im verheißenen Lande an nach dem ursprünglichen Plan der Besiedlung. Er verwirklicht also das alte Ideal der Wiederherstellung, das schon durch den Profeten Hesekiel vertreten wird. Besonderer Nachdruck wird auf die Reinheit Jerusalems und des ganzen verheißenen Landes unter seiner Herrschaft gelegt: Kein Unreiner wird unter ihnen sein, auch kein Gast oder Fremdling wird unter ihnen wohnen. Also kein Nichtisraelit? Sein Wort wird unter den zusammengeführten Stämmen in ihren Streitigkeiten als Engelwort gelten (Ps Sal 17,43). Er duldet kein Unrecht. Alle seine Untertanen werden heilig sein wie Söhne Gottes. Die Sünde wird aufhören. Der Messias selbst wird vorbildlich fromm sein, er wird ganz und gar auf Gott vertrauen. Er wird mächtig sein in der Tat, stark in der Gottesfurcht. Er wird die Herde Gottes treu und gerecht bewahren. Glücklich, wer in seiner Zeit leben wird. Das sind durchweg Motive aus dem Buch Jesaja.
Wie bald wird er kommen? Nach Justin (Dialog 8) ist der Jude Trifon überzeugt, der Messias sei wahrscheinlich schon geboren und halte sich irgendwo unerkannt verborgen (vgl. Jes 45,15; Joh 7,27). Auch im Jerusalemer Talmud wird gesagt (Berachot 5a), daß der Messias allerdings zu Bethlehem geboren, aber durch einen Wirbelwind weggetragen worden sei, wie die Profeten entrückt wurden (1.Kön 18,12; Apg 8,39). Nach Targum Jonathan zu Mi 4.8 ist der Messias schon hier auf der Welt, aber wegen der Sünden des Volkes ist er noch verborgen.
Neben dem Messias, dem Sohn Davids, kennt die jüdische Literatur der alten Zeit noch den Messias, den Sohn Josefs oder Ephraims. Er wird in der Baraita (Suka 52a) und im Targum Jerusalemi zu Ex 40,11 erwähnt. Weitere Einzelheiten nennen die jüdischen Apokalypsen vom Ende des 1. Jahrtausends. Nach deren Angaben ist der Messias ben Josef ein Heerführer im eschatologischen Kampf gegen Gog und Magog, eine Art jüdischer Antichristus. Die spätere jüdische Tradition nannte Gog Armilus. und manchmal wurde er sogar mit dem Islam identifiziert. In diesem Kampf fällt der Sohn Josefs. Vielleicht ist das ein Nachhall von Sach 12,10 "sie werden sehen, wen sie durchbohrt haben". Alles endet jedoch gut. Wenn es am schlimmsten ist, erscheint der Messias ben David. Mit dem Atem seiner Lippen wird er die Feinde überwinden und den Gottlosen - den Antichristen (Jes 11,4) - töten und den gefallenen Sohn Josefs lebendig machen.
Unter den Gelehrten besteht Uneinigkeit darüber, woher die Gestalt des Messias ben Josef stammt. Angeblich sei hier ein fremder, nichtjüdischer Stoff übernommen worden. Die alte Welt kannte Göttergestalten, ein gewisser Nachhall der Vegetationsgottheiten, die überwunden, getötet und wiederbelebt wurden. Aber die Juden waren im Übernehmen fremder religiöser Stoffe vorsichtig, und wenn, dann wurden sie umgestaltet und umgewertet, so daß die Erklärung nicht ausreicht. Einige jüdische Forscher vom Ende des vergangenen Jahrhunderts behaupteten, der bekannte Rabbi Aquiba habe sich diesen Messias ausgedacht, um so den Tod Bar Kochbas zu erklären, den er zuvor als Messias proklamiert habe. Das ist jedoch unmöglich. Die Vorstellung vom Messias ben Josef oder Ephraim muß viel tiefere Wurzeln haben. Der Autor dieses Buches versuchte sie zu erkennen (Dissertation 1951). Er suchte sie im Königstypus Nordisraels, der jahrelang wie in der Illegalität nicht erwähnt wurde, weil er als nicht rechtgläubig galt. Man wußte jedoch von ihm. Und so konnte Rabbi Aquiba alte, gleichsam unter Verschluß gehaltene Vorstellungen benutzen und diese Gestalt, als es notwendig wurde, neu herausgreifen. Selbstverständlich konnte sie ein geeigneter Fluchtpunkt für eine ganze Reihe alttestamentlicher Stellen werden, in denen von einem leidenden Herrscher oder vom leidenden Gottesknecht gesprochen wird. Durch diesen sehr geschickten (Schach-)Zug wurde gleichzeitig der Zusammenhang zwischen dem Leiden und dem davidischen Messias zerstört, der nun in vollem, ungebrochenem Glanz als apokalyptischer Triumphaler erstrahlen konnte.
Der Messias ben Josef blieb jedoch eine Randgestalt, ja er wurde in den Hauptquellen des Judentums gleichsam vergessen. Das ist kein Wunder. Der leidende Messias erinnerte allzu sehr an Jesus von Nazareth und die ganze christliche Tradition, die die Juden nicht nur nicht annahmen, sondern, die sie auch dadurch mieden, daß sie alles, was im Alten Testament auf das Leiden des Messias hinweisen konnte, so weit wie möglich anders auslegten. Namentlich die mittelalterlichen Auslegungstraditionen sind kompliziert. In einige haben wir bisher nicht hinreichenden Einblick. Viel ist noch herauszugeben, zu sichten und zu erhellen. Vielleicht eröffnen sich uns durch eine zukünftige Ausgabe wenig bekannter Texte und durch Computer-Aufarbeitung schwer überschaubarer Literatur mit der Zeit neue Einsichten.
In Gegensatz zu den jüdischen Vorstellungen und Hoffnungen stehen einige Konzeptionen der heidnischen Umgebung der Synagoge des Altertums. Forscher machen darauf aufmerksam, daß sich im römischen Reich zur Zeit des Kaisertums eine Art Analogie zur Messiashoffnung ausbreitete, die ihren Ursprung allerdings kaum im Judentum hatte. Eher ging es um einen Nachhall des heiligen oder Gottkönigtums, das mehr oder weniger im ganzen alten Orient verbreitet war. Nach dieser Konzeption ist der gerade inthronisierte König ein von den Göttern ausgesandter und ausgerüsteter König dergestalt, daß während seiner Herrschaft das goldene Zeitalter wiederkehrt. Seine Herrschaft, das volle Heil, übertrifft durch seine Pracht alles, was früher war. Diese Vorstellung verselbständigte sich später, und aus dem gerade inthronisierten König wurde der König der ersehnten Zukunft. Das alles zeigt sich vor allem in der Titulatur des Königs: Auch die griechisch sprechenden Ptolemäer ließen sich als göttliche Herrscher anreden und verherrlichen, als solche, die die Erlösung (theos soter) allen bringen, über die sie regieren. Das wurde auf den Kaiser übertragen. So ist Oktavian der "göttlich Erhabene", lateinisch divus Augustus, griechisch theos sebastes oder theos soter. Die Titulatur geht in den Hofstil über, dessen Widerhall auch bei den damaligen römischen Dichtern zu finden ist. So besingt Vergil in seinem bekannten 4. Hirtengedicht die Geburt des göttlichen Kindes, das das Heil bringt. In die gleiche Richtung zielt Horaz (Carmina 1,2,20f): "Wir bitten, komm doch endlich, bekleidet mit leuchtenden Wolken, Apoll, der du alles siehst." Einige Forscher (z.B. Bultmann) vermuten, daß auch die jüdische Messiaserwartung in neutestamentiicher Zeit durch solche hellenistischen Vorstellungen und den höfischen Stil gekennzeichnet sei. Der erwartete König soll angeblich vom Himmel herabkommen. Das finden wir übrigens auch bei Cicero, allerdings auf den Heerführer Pompejus bezogen (De imperio Gn. Pompei 41): "Damals sahen alle an jenen Orten auf Pompejus, nicht wie auf einen Gesandten aus Rom, sondern wie auf einen, der vom Himmel herabkommt (de caelo delapsum)". Das hat natürlich große Ähnlichkeit mit Dan 7,13, wo von einem Menschenähnlichen gesagt wird, er komme herab mit den Wolken des Himmels. Und dieses Wort ist dann auch im Neuen Testament bei Mt 24,30; 25,64; Mk 13,26; 14,62; Lk 21,27 und Offb 1,7 zu hören. Eher jedoch als mit direktem Einfluß hellenistischen oder römischen Hofstils haben wir es hier mit einer allgemeinen altorientalischen Gestimmtheit zu tun, in der die göttliche Verehrung der Herrscher nichts Besonderes war. Die Bibel widersteht dem unaufhörlich. Auch Jesus ist nicht zuerst 'Messias' bzw. zum Herrscher erhöht, sondern zuerst ist er der Erniedrigte und zwar bis ins Grab, also so tief, wie es tiefer nicht geht. Deshalb steht die christliche Sicht im Gegensatz zu allem, was aus dem Menschen Gott macht.
Erwähnenswert sind hier noch persische Vorstellungen, also des religiösen Systems, das manchmal nach seinem Begründer Zarathustra Zoroastrismus oder nach dem Namen seines höchsten Gottes Ahura Mazdah Mazdaismus genannt wird. Da schauen die Gläubigen nach der Ankunft des Saoshyant aus, der auch als eschatologischer Retter, kommen und alles zurechtbringen soll. In den ältesten Schichten des Mazdaismus scheint er noch nicht im Vordergrund zu stehen. Er hat also seine bedeutende Rolle erst im Verlauf der Zeit eingenommen, als die Enttäuschung über die historischen Könige auf die eschatologische Ebene transponiert wurde.
Jesus, die Apostel und alle, die im Neuen Testament zu Wort kommen, stimmen darin überein, daß sie sich auf das Alte Testament als auf eine Autorität berufen, als auf etwas, das seinen Ursprung in Gott hat und das deshalb unbedingt richtungweisend ist. Die Unterschiede fangen erst bei der Auslegung des Alten Testaments an.
Die Evangelien, besonders Matthäus, sagen wiederholt, daß dies oder jenes geschah, damit die Schrift oder das Wort des Profeten erfüllt würden - vgl. Mt 1,22; 2.15.17.23; 3,3; 4,14; 8,17; 12,17; 13,35; 21,4; 27,35 usw., vgl. die analogen Abschnitte in den übrigen Evangelien. Das Johannesevangelium setzt, auch wenn es nicht zitiert, das Alte Testament als Ganzes voraus. Die Briefe zitieren das Alte Testament nicht nur, sondern legen es oft auch aus und zwar mit verschiedenen Methoden: allegorisch (Gal 4,22-31); typologisch (1.Kor 10,1-11 und der Hebräerbrief); oder Briefstellen zitieren Texte des Alten Testaments als selbstverständlich maßgeblich (Jak 2,8; 4,6 u.ö.).
Uns interessiert jedoch besonders, wie das Neue Testament das alttestamentliche Christuszeugnis sieht. Jesus behauptet, daß die Schrift - und damit meint er selbstverständlich das Alte Testament - von ihm zeugt (Joh 5.39). Den Jüngern, die auf dem Wege nach Emmaus sind. legt der Auferstandene eben diese Schrift aus, die von ihm zeugt, und begründet so die innere Notwendigkeit des Verlaufs des Ostergeschehens (Lk 24,25-27). Ähnlich erklärt auch Philippus dem Kämmerer eine unklare Schriftstelle aus Jes 53 dadurch, daß er sie auf Christus bezieht (Apg 8,27-35). Tief durchdacht hat der Apostel Paulus die Beziehung des Gesetzes zu Christus. Seine Auslegung mündet in die Schlußfolgerung, daß das Gesetz ein Erzieher oder Führer bis zu Christus sei (Gal 3,24). Also sagt das Neue Testament ganz eindeutig, daß das Alte Testament von Christus zeugt. Es sagt aber nicht genauer wo und wie.
Daraus folgt: Wir können das Neue Testament ohne das Alte nicht richtig und in seiner Tiefe verstehen, weil es systematisch daran anknüpft. Das ist klar. Was aber, wenn Jesu Sicht des Alten Testaments nur das Ergebnis seiner Überzeugung ist, ein Nachhall dessen, worin er aufgewachsen und unterrichtet ist, also im wesen tlichen nur die Rückprojizierung einer bestimmten dogmatischen Haltung, die jedoch im Alten Testament selbst keine Grundlage hat? Diese Frage und unterschiedliche Antworten darauf stehen im Hintergrund des tausendjährigen Streits um das Alte Testament in der christlichen Kirche, eines Streites um seine richtige Auslegung und seinen Platz im Christentum. Wir dürfen diese Frage bei der weiteren Auslegung nicht vergessen. Und der Versuch ihrer Beantwortung ist eigentlich der Sinn dieser ganzen Arbeit.
Besonders das Buch Jesaja und die Psalmen hatten zentrale Bedeutung. Das ist kein Zufall. Beide werden im Neuen Testament am häufigsten zitiert, Jesaja 289 mal, die Psalmen 294 mal (nach dem Register des Nestle-Textes). Dieses Verzeichnis enthält etwas mehr als 1000 Zitate des Alten Testaments im Neuen. Natürlich wurde gegen dieses Verfahren auch Widerspruch erhoben, sogar von zwei Seiten. Einmal waren es die Juden, die bestritten, daß Jesus mit dem im Alten Testament erwarteten Messias identisch sei. Christen, die selbstverständlich griechisch sprachen und gegen die ebenfalls griechisch sprechenden Juden im hellenistischen Raum polemisierten, belegten es aus der griechischen Septuaginta, also aus der damals gebräuchlichen griechischen Übersetzung des Alten Testaments, die zwischen 300 und 400 v.u.Z. im ägyptischen Alexandrien entstanden war. Die Juden begannen diese Übersetzung deshalb zu beargwöhnen, dann auch abzulehnen und sich neue, eigene, also jüdische und angeblich unverdorbene Übersetzungen des Alten Testaments zu erarbeiten. Sie sind uns nur in Bruchstücken eralten. Wir kennen aber ihre Autoren oder genauer, die Namen derer, denen sie zugeschrieben wurden: Theodotion bearbeitete nur die schon vorhandene Septuaginta, Symmachos machte den Versuch einer neuen, eigenen Übersetzung in gutes Griechisch, während Aquila durch eine ungewöhnlich hölzerne und bis zur Unverständlichkeit wörtlich genaue Übersetzung bekannt wurde. Das gewichtigste alttestamentliche Dokument, das dieses jüdisch-christliche Tauziehen um das Alte Testament, und wie es zu verstehen sei, widerspiegelt, ist die Schrift Justins des Märtyrers aus der Zeit um 150 nach Christus, genannt "Der Dialog mit (dem Juden) Trifon". Es ist eine Art Aufzeichnung einer zweitägigen Disputation Justins mit dem gelehrten Rabbiner Trifon, die vielleicht wirklich in Ephesus stattfand.
Die Auseinandersetzung zwischen Juden und Christen über das Alte Testament zieht sich durch die Jahrhunderte hin, und in abgemilderter Form dauert sie eigentlich bis heute an. Jahrhundertelang schien es so, als habe die christliche, von der Staatsmacht organisierte und gestützte Kirche die Oberhand, bis sich erst in jüngster Zeit zeigte, daß in solchen Dingen die Machtüberlegenheit wenig gilt. Heute gibt es einige Alttestamentier, die sehr darauf achten, daß wir, die Christen, den Juden das Alte Testament nicht auf hinterlistige Art stehlen, sondern zuerst ihre Auffassung und ihren Standpunkt anhören. Daran ist sicher etwas Richtiges, solange es nicht einer Verleugnung des Christentums gleichkommt. Es gilt, von den Machtpositionen und wieder heimlichen Verleumdungen zu einem sachlichen, nüchternen und offenen gegenseitigen Gespräch zwischen Juden und Christen zurückzukehren. Die Zeit ist reif dazu.
Auf der anderen Seite liefen Gnostiker gegen die christliche Deutung des Alten Testaments Sturm, nicht alle Gnostiker. Die Gnosis ist eine weitläufige und komplizierte Strömung. Eine bedeutende Gruppe von Gnostikern lehnte das Alte Testament jedoch grundsätzlich ab und empfahl der Kirche, es einfach beiseitezulegen. Die Ablehnung des Alten Testaments hatte verschiedene Gestalt. Eine Gruppe bildeten die antinomistischen, wörtlich: gegen das Gesetz gerichteten, Strömungen, sofche, die das Alte Testament mehr durch ihr konkretes Verhalten ablehnten als mit durchdachter Polemik. Vratislav Schmelhaus (Griech. Patrologie, Prag 1972. S. 22) beschreibt sie so: "Die Kainiter hielten Personen, die das Alte Testament als Gottlose bezeichnet und vor allem Kain selbst, für echte Pneumatiker und Zeugen, ja Märtyrer der Wahrheit. Die Nikolaiten behaupteten, daß die Menschen den Begierden freie Hand geben müßten, um sie zu überwinden. Die Antitakter hatten den Grundsatz, es sei nötig, Werke zu tun, die im Gegensatz zum Gesetz stehen. Die Prodikoten hielten sich für Königssöhne und folglich über das Gesetz erhaben, das den Knechten gegeben sei." In etwa gingen sie wahrscheinlich von der Lehre des Apostels Paulus aus, die sie allerdings in großem Maße verdrehten.
Den Höhepunkt in der Ablehnung des Alten Testaments im Altertum stellt Marcion dar. Er lehnte das Alte Testament überhaupt ab. Er behauptete, es habe mit Jesus, dem Christus, nichts Gemeinsames. Das ist ein PräzedenzfalI. Es lohnt sich, sich damit ausführlicher zu beschäftigen. Schmelhaus schreibt über ihn: "Er wurde um 85 geboren in Sinope am Schwarzen Meer. Seiner Ansichten wegen wurde er von dem eigenen Vater, dem Bischof, aus der Gemeinde ausgeschlossen. In Kleinasien wurde er von Polykarp abgelehnt, um 139 aber in die römische Gemeinde aufgenommen. Doch auch von dort wurde er 144 ausgewiesen und begann danach eigene Kirchengemeinden zu gründen. Er erwies sich als ausgezeichneter Organisator und genoß bei seinen Anhängern große Ehre. Die marcionitischen Gemeinden mit einer festen Hierarchie monarchischer Bischöfe, mit Presbytern und sogar mit eigenen Märtyrern breiteten sich in großer Anzahl schnell aus (im Osten bis nach Persien und Armenien) und erhielten sich trotz der antihäretischen Gesetze der späteren Kirchenväter bis ins 6. Jahrhundert, im Unterschied zu anderen Gnostikern lehnte Marcion die allegorischen Auslegungen der Schrift ab. Er gab sich nicht mit kosmogonischen Spekulationen ab. Er glaubte nicht an die Macht der Sterne und legte nicht einmal Wert auf die Heilkraft der Erkenntnis. Für das typisch Gnostische stehen andere marcionitische Gedanken. Obwohl es ihm in erster Linie darum ging, das Christentum als selbständige Religion von jüdischem Einfluß zu befreien und es zu seiner ursprünglichen Reinheit(schon damals!) zurückzubringen, obwohl er in seiner Kritik von dem Gegensatz zwischen Gesetz und Gnade ausging, wie ihn Paulus sah, der einzige Apostel, der nach seiner Meinung Jesus völlig verstanden hat, gelangt Marcion folgerichtig zu der vollständigen Verwerfung des ganzen Alten Testaments, auch mit seinem Offenbarer, dem zornigen und gerechten Schöpfergott, dem gnostischen Demiurgen. Im Neuen Testament offenbare sich dagegen, und das in Christus, der bis zu dieser Zeit den Menschen ganz unbekannte höchste, gütige Gott. Christus kam vom Himmel herab, nahm einen Scheinleib an und trat sofort in der Synagoge von Kapernaum auf. Seine ganze Wirksamkeit drehte sich um die Zerstörung des Reiches des Demiurgen und um die Befreiung der Menschen aus seiner Macht. Die Anhänger des Demiurgen schlugen den Christus zuletzt scheinbar ans Kreuz. - Marcion schuf einen Kanon neutestamentlicher Bücher, in denen nach seiner Meinung die wahre Christusoffenbarung enthalten war: Dazu gehörten nur das Lukasevangelium, natürlich ohne Jesu Kindheitsgeschichte, und 10 Paulusbriefe (ohne den Hebräerbrief und die so genannten Pastoralbriefe); und in diesem Torso alle alttestamentiichen Zitate beseitigt und andere kleinere 'jüdische Fälschungen'. Marcions Kanon spielte selbstverständlich eine sehr wichtige Rolle in der Geschichte der Bibelkritik. Man kann jedoch nicht sagen, daß erst durch ihn die Anregung zur Bildung eines kirchlichen Kanons gegeben wurde. Aus der Verwerfung des alttestamentiichen Demiurgen und aus der kritischen Haltung zu seinem unvollkommenen Werk ging auch die sehr strenge rigoristische Moral Marcions hervor: er verwarf die Ehe und den Genuß von Fleiseh und Wein. Mit dieser asketischen Gesinnung, einer auch aus anderen gnostischen Gruppen bekannten Weltverachtung, hängt auch Marcions Entschlossenheit zum Martyrium zusammen."
Die Kirche wich dem Extrem also aus. Sie behielt das Alte Testament bei, aber keinesfalls als ethische Richtlinie wie bei den Juden, auch nicht nur als etwas Negatives, von dem sie das Neue Testament positiv um so deutlicher abhebt. Das Alte Testament war jahrhundertelang für die Christen vor allem eine Sammlung von Profezeiungen über das Kommen Christi. Es wurde nach dem Schema Verheißung - Erfüllung gelesen und erforscht. Oft wurden allegorische Methoden benutzt. Ihr bedeutendster Vertreter war Origenes von Alexandria (gestorben 254), der Vollender der dort an der berühmten Katechetenschule gepflegten und an der allegorischen Auslegung orientierten Tradition. Er schrieb natürlich griechisch. Etwas nüchterner war der berühmteste lateinische Kirchenvater Aurelius Augustinus (354-430). In seinem Grundverständnis des Alten Testaments stimmte er jedoch nicht nur mit Origenes, sondern mit der ganzen altchristlichen Tradition, die er in seinem Monumentalwerk "Der Gottesstaat" (De civitate Dei) zusammenfaßte, überein.
Das frühe Mittelalter und auch die später entwickelte Scholastik bringen im Blick auf das Alte Testament nichts wesentlich Neues und Umwälzendes. Die führenden Theologen waren auf andere Fragen konzentriert. Die Bibel trat in den Hintergrund. Erst in der Reformationszeit gelangt sie wieder in den Vordergrund. Auch sie bleibt bei der Bewertung und Auslegung des Alten Testaments im wesentlichen in den früheren Gleisen. Das Schema Verheißung - Erfüllung überwiegt. Im tschechischen Raum, also bei uns zuhause, lenkte Matìj von Janov als erster die Aufmerksamkeit auf die zentrale Bedeutung der Bibel. Das Hussitentum bekennt sich zu dem sogenannten formalen Prinzip der Reformation "allein aufgrund der Schrift" (lateinisch: sola scriptura), über die Beziehung des Alten zum Neuen Testament macht es sich jedoch selbständig keine Gedanken. Einen etwas abweichenden Weg ging die alte Brüdergemeine, die sich offenbar hauptsächlich in ihren Anfängen auf das Neue Testament konzentrierte. Sie tat das aber nicht aus bewußter Abneigung gegen das Alte Testament, sondern weil sie Christus selbst im Mittelpunkt alles kirchlichen Geschehens haben wollte. Es ist ein Ausdruck ihres Christozentrismus.
Auch zwischen Lutheranern und Reformierten gibt es einen leichten Unterschied in der Behandlung des Alten Testaments. Luther geht aus von Paulus und seinem kritischen Verhältnis zum jüdischen Verständnis des Gesetzes. Das wird im Luthertum manchmal etwas ungenau mit dem Alten Testament als ganzem identifiziert. Damit hört das Alte Testament zwar nicht auf, Verheißung des Christus zu sein, aber indem Christus es erfüllte, wird es mitunter für etwas Abgetanes, Überwundenes gehalten. Es ist kein Wunder, daß die spätere Geringschätzung des Alten Testaments (z.B. durch Bultmann) oder geradezu seine Ablehnung (z.B. durch Harnack) auf lutherischem Boden entstand. Es ist wahrscheinlich charakteristisch genug, daß die Augsburger Konfession keinen selbständigen Artikel über die Schrift hat - im Unterschied zu den Schweizern. Luther lehnte auch - im Unterschied zu Calvin - die Apokryphen oder die deuterokanonischen Bücher nicht gänzlich ab. Er unterschied sie nur deutlicher von den kanonischen und wehrte sich dagegen, daß man mit ihren Zitaten argumentierte. Anhand der Apokryphen erbrachte nämlich Rom den Nachweis für das Fegefeuer und die Notwendigkeit der mit ihm zusammenhängenden Ablaßpraxis.
Im Hintergrund der gesamten reformierten Strömung steht Calvins Auffassung des Alten Testaments als Darstellung einer Geschichtsepoche, in der Gott alles für das Kommen des Christus vorbereitete. Die Beziehung Verheißung - Erfüllung wird also vertieft zu einer Beziehung zwischen einer Zeit der Vorbereitung und einer Zeit der Verwirklichung des Heilswerks. Dadurch gewinnt das Alte Testament allerdings an Bedeutung, vor allem als Bild der Heilsgeschichte. Darin knüpfte Calvin an eine Reihe von Vorgängern an, insonderheit an Augustin. Im Unterschied zu ihnen bemaß er jedoch den Umfang des Alten Testaments strikt nach dem jüdischen Kanon und lehnte die Apokryphen ab. Darin stimmte er mit den Kennern des Hebräischen der Renaissancezeit überein, die den Ruf "zu den Quellen" (ad fontes) auch in dem Sinn auslegten, daß die Bibel in den Ursprachen studiert und nur aus ihnen übersetzt werden müsse. Natürlich übersetzte auch Luther bereits aus den Ursprachen, aber in der reformierten Strömung breitete sich die Erforschung des Alten Testaments besonders aus.
Zusammenfassend können wir sagen: Von den ältesten Kirchenvätern an bis zur Zeit nach der Reformation galt das Alte Testament in der christlichen Kirche vor allem als Sammlung von Verheißungen des Kommens Christi. Seine christologische Auslegung war also - bis auf kleine Ausnahmen am Rande der Kirche wie z.B. Marcion - unproblematisch und unbestritten. Es wurden keine neuen Argumente für sie gebracht.
Der eigentliche Durchbruch der Aufklärung in die biblische Theologie geschah erst Ende des 18. Jahrhunderts, als sich die Gedanken Semlers, Lessings und Kants verbreiteten. Von ihnen ging Christof Friedrich von Ammon (1765-1850) aus, der bezeichnenderweise behauptete, die alttestamentiichen Schriften seien nurgültig, "insoweit sich das Christentum aus ihnen entwickelt" (Kraus, 46). Kraus referiert weiter (S. 46f): "Der vom neutestamentlichen Geist bestimmte Pneumatiker 'richtet alles'. Er wertet und beurteilt auch den Rang und die Bedeutung der messianischen Weissagungen - kraft seiner geistlichen 'Orthodoxie', die zugleich geistige Kritik der Vernunft und moralische Maßstäbe geltend macht. Messianische Weissagungen waren doch gar nicht das Thema Nr. 1 dieser Gottesmänner Israels, sondern 'ohne Zweifel das der Sittenlehre'. Andererseits zeigt sich im Neuen Testament, daß Jesus die Lehre vom Messias durchaus nicht als einen 'Fundamentalartikel seiner Religion' betrachtete, sondern vielmehr die aus dem Alten Testament überlieferten Begriffe und Vorstellungen in ihrer sowohl mosaischen wie diesseitigen Gebundenheit nur benutzte, um seine Lehre bei den Juden einzuführen und zu verbreiten. Die zahlreichen Untersuchungen zur alttestamentiichen Messianologie können demnach theologisch nichts austragen; sie haben nur Wert als Beleuchtung eines historischen Vorgangs und dürfen allenfalls 'bei dem Bekehrungsgeschäfte jüdischer Proselyten' eine aktuelle Bedeutung erlangen. Mit einer schroffen Forderung verlangt v. Ammon, daß man den ganzen Komplex messianischer Weissagungen aus dem öffentlichen Volksunterricht ausschalte, da er für die Religion des Herzens, die Jesus lehrte, überhaupt nichts beitragen könne." So weit Kraus üoer Ammon.
Johann Philipp Gabler (1753-1826) behauptete, daß die biblische Theologie als historische Disziplin gepflegt werden müsse und führte den Gedanken der natürlichen Entwicklung ein. Der Aspekt und die Voraussetzung der Theopneustie seien auszuschalten, denn "der Geist erhebt sich stufenweise vom Niederen zum Höheren" (Kraus, 55). Gabler ist noch Theist, dessenungeachtet, daß er methodisch an den englischen Philosophen David Hume (1711-1775) anknüpft, der alle Religion einschließlich des christlichen Glaubens für eine Ausgeburt menschlicher Angst hielt. - Ein weiterer Aufklärer, Daniel von Cölln (1788-1333), stellt Jesus und das Alte Testament schon ausdrücklich in Gegensatz zueinander (Kraus, 60-69). Nach ihm ordnet Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780-1849) die Anthropologie der biblischen Theologie vor und sucht im Alten Testament die Entwicklung vom Stammespolytheismus zur idealen Religion der Profeten (Kraus, 70-73). Und Georg Lorenz Bauer (1755-1806) trennt schließlich die Christologie von der biblischen Theologie und zeigt in einer kritischen Analyse der alttestamentlichen Stellen, die für Messiasverheißungen gehalten wurden, daß sie sich nicht auf den Messias beziehen. "In Jes 53 kann unmöglich von einem Messias die Rede sein, das Alte Testament kennt keinen leidenden Messias" (Kraus 91).
Lassen wir eine Reihe weiterer Namen beiseite und versuchen wir zusammenzufassen: Die Aufklärung interessiert sich für das Alte Testament, aber in entgegengesetzter Richtung als in der damaligen Zeit üblich. Sie betrachtet das Alte Testament als historisches Dokument und überprüft aus dieser Sicht die ältere Auffassung des Alten Testaments als einer Zusammenstellung von Christusverheißungen. So wurde der Boden für die weitere Entwicklung bereitet, die sich ganz von jeder Art Christologie des Alten Testaments lossagt.
Damit treten wir in den Zeitraum des theologischen Liberalismus ein, einer gewissen Analogie zum philosophischen Positivismus, der die Atmosphäre vor allem in der zweiten Hälfte des 19. und noch in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts bestimmte. Er hatte eine Reihe von Wegbereitern. Sein bedeutendster Vertreter war jedoch Julius Wellhausen (1844-1913). Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in der historischen und literarischen Kritik des Alten Testaments. Für uns ist jedoch wichtig, daß sich für ihn die frühere Theologie des Alten Testaments in die "Geschichte der alttestamentlichen Religion" verwandelte, ganz dem Gedanken der natürlichen Entwicklung untergeordnet. Auch wissenschaftlich kann man nach Wellhausen nur vom Alten zum Neuen Testament gehen, wie es der historischen Reihenfolge entspricht, den umgekehrten Weg, vom Neuen Testament ins Alte, hält er für unwissenschaftlich, unrichtig und eigentlich unmöglich. Die Profeten sind seiner Meinung nach sittliche Reformatoren und gehören historisch vor das Gesetz, das erst aus ihrem moralischen Appell entstand. Jesus sei ein Lehrer der wahren Menschlichkeit gewesen und habe mit dem Alten Testament nur insoweit zu tun, als das Alte Testament die Umwelt geformt habe, in der Jesus aufwuchs und die Begriffe, in denen er dachte und redete. Alles übrige sei Projektion frommer Wünsche alter Ausleger, die jedoch heute, in der Zeit des Fortschritts und der Wissenschaft, nicht mehr ernstgenommen werden könnten, Wellhausen hatte eine Reihe von Nachahmern und zu seiner Zeit verhältnismäßig wenige Gegner. Seine Konzeption war nicht nur überzeugend, sondern geradezu faszinierend. Und ihre Kritiker hatten nicht genug durchschlagende Argumente. Man könnte sagen, daß Wellhausens Auffassung vom Alten Testament und von der Bibel überhaupt die äußerste Abweichung von der orthodoxen Lehre darstellt, ähnlich der von Marcion im Altertum. Sie breitete sich jedoch in damaliger Zeit auch im protestantischen Europa aus, und es gab unter den Dogmatikern und praktischen Theologen eine solche Abneigung gegen das Alte Testament, wie sie dort seit Jahrhunderten nicht bestand. Der Kirchenhistoriker und Autor der allgemein anerkannten Dogmengeschichte Adolf von Harnack (1851-1936) erklärte ganz offen, die christliche Kirche habe das Alte Testament abzulehnen, wie Marcion es einst vorschlug. Die Ablehnung des Alten Testaments hängt, besonders auf dem Boden des deutschen Protestantismus, eng zusammen mit der Ausbreitung des Antisemitismus, genauer der antijüdischen Stimmung bis zur Raserei, die letztlich zum Bau der Gaskammern in Auschwitz beitrug.
Wo liegt der Fehler? Wir können ja doch auf die historisch-kritische Forschung gerade auch über die Bibel hinaus nicht verzichten! Die historischen Kritiker hatten doch sachlich recht, wenn sie behaupteten, daß eine Reihe von Stellen, die mit Christus in Beziehung gebracht wurden, ursprünglich einen anderen Sinn hatten oder sich auf andere Personen bezogen. Einige Beispiele: Die Profezeiung Bileams über den Stern aus Jakob (Num 24,17) zielte ursprünglich auf David. Der Ausspruch "Mein Sohn bist du" (Ps 2,7) war eine Formel des königlichen Protokolls, mit der die königliche Regierung bei den Inthronisationsfeiern legitimiert wurde usw. usw... Wenn wir diese Stellen direkt auf Jesus beziehen, tun wir etwas, was der Schreiber jedenfalls noch nicht tat. So baute die kritische Theologie allmählich eine Verheißung nach der anderen ab bis nur noch eine kleine Handvoll übrigblieb, und auch die hielten einige Ausleger noch für problematisch.
Wie weiter? Sollten wir vielleicht zum Anfang des 17. Jahrhunderts zurückkehren? Oder sogar bis zur Reformation? Oder noch weiter? Vor dieser Frage stand die Bibelwissenschaft des 20. Jahrhunderts und wußte lange nicht, wie darauf antworten. Neue Gedanken kamen auf und neue Blickwinkel öffneten sich an ganz anderer Stelle als erwartet.
Die Bibelwissenschaftier reagierten etwas langsamer. Sie konnten nicht mit Proklamationen anfangen, sie mußten eine neue Methode erarbeiten. Und hier muß unser erster Alttestamentler Slavomil Danìk (1885-1946) erwähnt werden, der mit seiner neuen Sicht des Alten Testaments annähernd um ein bis zwei Jahrzehnte früher kam als die übrigen. Was war das Wesentliche seiner Methode? Es ist eigentlich ganz einfach: Es war die Erkenntnis, daß der Weg vorwärts nur durch die Kritik der Kritik führt, nicht zurück in die vorkritische Epoche. Die Kritiker, die vor uns waren und es uns auch verschiedentlich komplizierter machten, hatten in einem Punkt recht und in einem anderen unrecht. Worum es dabei geht, ist herauszufinden, zu zeigen, zu begründen. Anders kommen wir nicht weiter. Für Danìk wurden die Dinge offensichtlich um 1922 herum klar, während Eichrodt und Vischer, durch Barth beeinflußt, erst in den dreißiger Jahren mit ihren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit traten.
Wir haben von Danìks Christologie-Konzept des Alten Testaments schon im 2. Paragraphen dieser Arbeit gesprochen. Sehen wir uns darum seine ausländischen Mitstreiter um die neue Auffassung des Alten Testaments an. Notwendig ist vor allem, daran zu erinnern, daß es auch zur Zeit der Herrschaft der liberalen Thsdogie und der allgemeinen Ablehnung des Alten Testaments Ausleger gab, die doch nicht ganz mit dem Strom schwammen und sich um eine abweichende Auffassung bemühten. Es waren nicht viele, und sie konnten sich nicht durchsetzen, aber sie bemühten sich wenigsten darum zu vermitteln. Der bedeutendste unter ihnen ist wahrscheinlich Eduard König (1846-1936). Dessenungeachtet brachten sie die Sache nicht voran. Der erste Durchbruch im deutschen Sprachraum war wohl das Werk Walter Eichrodts (*1890). Der erste Teil seiner "Theologie des Alten Testaments" kam 1933 heraus. Eichrodts Programm war. Schluß zu machen mit dem Historismus und zu versuchen, wie er sagt, "die alttestamentiiche Glaubenswelt in ihrer strukturellen Einheit zu begreifen und unter Berücksichtigung ihrer religiösen Umwelt einerseits, ihres Wesenszusammenhangs mit dem Neuen Testament andererseits in ihrem tiefsten Sinngehalt zu deuten" (Einleitung S. 5). Eichrodt wollte also eine Bewegung innerhalb des Alten Testaments erfassen, die im Neuen Testament erfüllt ist. Er sagt: "Erst in der Erscheinung Christi kommt diese Bewegung zur Ruhe" (S. 1). Was ist unter dieser Bewegung zu verstehen? Was tut Eichrodt damit, daß er den Bund Gottes mit Israel und seine Abwandlungen in die Mitte seiner Konzeption stellt?
In der konkreten Durchführung sieht es so aus, daß er seine Theologie in drei große Blöcke teilt: 1. Gott und Volk, 2. Gott und Welt, 3. Gott und Mensch. In diesen Teilen kommt auch die geschichtliche Konzeption zu Wort, z.B. die Geschichte des Bundes oder die Geschichte der profetischen Bewegung, ungeachtet dessen, daß hier nur selten ein Ausblick auf das Neue Testament geschieht. Die Perspektive der geschichtlichen Entwicklung wird nicht geleugnet, sondern nur in das systematisch geordnete Bild des Glaubens Israels einbezogen. Das Bemühen um die systematische Ordnung aller Äußerungen des Glaubens beherrscht die ganze Konzeption Eichrodts. Im Vergleich mit seinen Vorgängern ist es sicher ein großer Schritt voran. Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob es möglich ist, etwas so Wandelbares wie das im Alten Testament festgehaltene Geschehen zwischen Gott und seinem Volk und zwischen Gott und dem Menschen in ein einheitliches System zu bringen. Auch der Ausblick auf das Neue Testament kommt dann zu kurz. Eichrodts "Theologie des Alten Testaments" ist ein Werk von bleibendem Wert und bis heute ein sehr nützliches Handbuch zur Orientierung in den theologischen Grundbegriffen des Alten Testaments. Aber was wir mit dem Begriff Christologie des Alten Testaments meinen, steht eigentlich nicht darin.
Damit kam etwa ein Jahr später, also 1934, Wilhelm Vischer (*1855). Sein Buch trägt den bezeichnenden Titel "Das Christuszeugnis des Alten Testaments". Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Gesetz, also mit den 5 Büchern Mose, der zweite Teil mit den "vorderen Profeten" nach dem hebräischen Kanon. Das sind unsere erzählenden Bücher: Vischer geht das Buch der Richter, die Samuel- und die Königsbücher durch. Das Buch hatte großen Einfluß, auch wenn es in der Fachliteratur nur selten zitiert wird. Das liegt vielleicht daran, daß es im Unterschied zu Eichrodt, Danìk und anderen vorwiegend nicht das Ergebnis detailliertsr kritischer Forschung ist, sondern eine große, fast poetisch geformte Konzeption des Alten Testaments, die sich an das reformatorische Schriftverständnis anlehnt und an die neuzeitliche orthodoxe dogmatische Lehre. Nichtsdestoweniger ist das Buch sehr lebendig und anregend und hat das verlegene Schweigen nicht verdient, mit dem es die Mehrzahl der Forscher, namentlich im deutschen Sprachraum übergehen. Begreiflicherweise wurde in den letzten 50 Jahren auch im Alten Testament mancherlei erarbeitet und erhellt, aber Vischer beleibt die Ehre eines mutigen und entschlossenen Kämpfers auf einem vorgeschobenen Posten. Methodisch ließ er sich hauptsächlich von den neutestamentiichen Autoren und den Reformatoren leiten. Er kehrte also zur Typologie zurück.
Um das Verständnis des Alten Testaments, nahe Eichrodt, bemühte sich auch Otto Procksch (1874-1947) in seiner 1950 posthum erschienenen "Theologie des Alten Testaments". In der Frage 'Christus und das Alte Testament' geht er jedoch weiter als Eichrodt. Procksch sagt wörtlich (nach Kraus, S. 123): "Alle Theologie ist Christologie. Jesus Christus ist die einzige Gestalt unserer Erfahrungswelt, in der Gottes Offenbarung vollständig ist. Gott ist in Christus und Christus in Gott, dies Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist völlig einzigartig in der Geschichte; es wiederholt sich in keiner anderen Gestalt." Im Unterschied zu Eichrodt, der sich am Begriff des Bundes orientiert, entfaltet Procksch im Sinne der älteren Erlanger Tradition eine "Geschichte der Offenbarung im Alten Testament", und zwar zunächst in drei Etappen: 1. die Zeit der alten Profeten, 2. die Zeit der Könige, und 3. die Zeit des Kirchenstaates. Er fühlt jedoch selbst, daß sich die ganze Theologie des Alten Testaments auf diese Weise nicht erfassen läßt, und so fügt er einen zweiten Teil hinzu - ein Begriffswörterbuch bzw. eine Begriffslehre. Es bleibt aber zwischen seiner geschichtlichen und seiner systematischen Auslegung eine Spannung, die den christologischen Zugang erschwert, um den es ihm ging. So zeigt Procksch's Konzeption letztlich, daß sich eine Christologie des Alten Testaments auch durch einen beachtenswerten Ausgangspunkt und den guten Vorsatz zu Anfang auch im Rahinen der heilsgeschichtlichen Konzeption nicht fassen läßt, ebensowenig wie in der systematischen Konzeption Eichrodts. Etwas fehlt, und etwas ist zu viel.
Auf Grund dieser Feststellung läßt sich ein anderer Versuch des Entwurfs einer Theologie des Alten Testaments verstehen, den der Schweizer Ludwig Köhler (1880-1956) schon 1935 vorlegte. Seine Wurzeln sind zwar liberal, aber er war ein ungewöhnlich sachlicher und genauer Forscher. Er reduzierte die Theologie des Alten Testaments auf das, was das Alte Testament selbst sagt. Seine kurze und übersichtliche Arbeit imponierte Danìk einstmals so, daß er sie bei uns als Lehrbuch einführte; auch ich lernte in den vierziger Jahren daraus, als es zu diesem Thema noch keine tschechische Literatur gab. Köhler wich jedoch der Frage der Christologie des Alten Testaments aus. möglich, daß das in der damaligen Zeit und Situation durchaus nicht unklug war.
Der letzte bedeutende Vertreter des internationalen alttestamentlichen Forums vor Gerhard von Rad ist offensichtlich der Holländer Theodorus Christian Vriezen (*1399). Seine Arbeiten sind "Hauptlinien der Theologie des Alten Testaments" (Hoofdlijnen der Theologie van het Oude Testament, Wageningen 1949, deutsch 1956, englisch 1953). In seiner Arbeit will er das Alte Testament "als Gottes Wort" behandeln, anders gesagt, er will sich, auf die Erforschung des kerygmatischen Charakters des Alten Testaments im ganzen wie im einzelnen konzentrieren. Er will nicht nur "religiöse Gedanken, Ideen und Äußerungen", sondern auch "theologische Zeugnisse" überprüfen (Kraus 132). Das Alte Testament als Bekenntnis zu verstehen, ist ein großer Fortschritt. Es ist sicher nicht von ungefähr, daß er nicht auf deutschem, sondern auf holländischem Boden wirksam wurde. Nicht nur einmal wurden die Deutschen von ihrer bekannten Gründlichkeit so blockiert, daß sie die von ihrer Forschung selbst geschaffenen Grenzen nicht überspringen konnten, und der neue Durchbruch kam aus Holland, aus Skandinavien, aus dem angelsächsischen Raum. Vriezen hat auch sehr genau erfaßt, worin das Positive und das Negative der Ansicht Eichrodts besteht: "Eichrodt geht noch zu wenig vom theologischen Charakter der alttestamentiichen Theologie aus. Sicherlich durchbricht er die Grenzen einer positivistisch ausgerichteten historischen Untersuchung; aber der eigentliche theologische Ansatz ist damit noch nicht gewonnen." (Kraus 132, Anm. 30). Auf das dünne Eis und den heißen Boden einer alttestamentlichen Christologie wagte sich Vriezen direkt noch nicht. Er bleibt bei der vorsichtigen Formulierung stehen, daß das Alte und das Neue Testament eine organische Einheit bilden, weil Jesus ganz und gar auf dem Boden des alttestamentiichen Zeugnisses stand und lebte. Aber das bedeutet auch, daß wir "den Abstand verschiedener Teile des Alten Testaments zur Predigt des Evangeliums zu erkennen haben" (Vriezen nach Kraus 132f). Damit entstehen natürlich neue Fragen: Was für ein Abstand? Worauf beruht er? Kann er irgendwie überbrückt werden?
Das alles fragte sich der wahrscheinlich bedeutendste deutsche Alttestamentier unseres Jahrhunderts Gerhard von Rad (*1901), langjähriger Professor in Heidelberg. Seine gründliche "Theologie des Alten Testaments" hat zwei Teile. Der erste Teil, 1957 zum ersten Mal erschienen, beschäftigt sich mit der "Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels". Er beginnt mit einer übersichtlichen "Geschichte des Jahweglaubens und der sakralen Institutionen Israels" und geht dann die einzelnen literarischen Traditionsblöcke durch, also zum Beispiel den Hexateuch, d.h. Genesis bis Josua. Der Abschnitt "Die Gesalbten Israels" handelt von den Königen und der Abschnitt "Israel vor Jahwe" befaßt sich mit den hymnischen und weisheitlichen Texten des Alten Testaments. Der zweite Teil, zuerst 1960 herausgekommen, denkt über die Theologie der Profeten nach. Er beginnt mit einer historischen Übersicht von den ersten Anfängen der Profetie bis. hin zur Herausbildung der profetischen Eschatologie. Danach geht er die einzelnen Profeten durch in der Reihenfolge ihrer Wirkungszeit, also von Amos und Hosea bis Daniel. Zuletzt kommen noch Nachträge zur Theologie insgesamt: A. "Die Vergegenwärtigung des Alten Testaments im Neuen", B. "Das alttestamentiliche Verständnis von Welt und vom Menschen und der Christusglaube" - das ist der Abschnitt, der uns besonders interessiert - , C. "Das alttestamentliche Heilsgeschehen im Lichte der neutestamentiichen Erfüllung" und D. "Das Gesetz". Der zweite Teil endet mit einem ausführlichen Register.
Von Rads Auffassung ist dynamischer als die seiner Vorgänger. Aus der Geschichte der Offenbarung wird die Geschichte der Tradition, ein Strom des Zeugnisses von Gottes großen Taten, in jeder Zeitepoche so nacherzählt, daß sie neu ansprechen. Unsere Aufgabe ist dann vor allem, von einem Bibelabschnitt zum anderen nach der Absicht der Botschaft, nach der kerygmatiscnen Intention zu fragen. Das hatte im wesentlichen auch Danìk im Sinn, wenn er es auch in seinen berühmten Thesen zur Einführung in die Studie "Gedalja" (Sanmmelband zum ersten Jahrzehnt der Hus-Fakultät, 1930, 51-58) in andere Worte kleidete. Von Rad sagt, die Theologie des Alten Testaments habe sich im rechten Nachsprechen der alttestamentlichen Zeugnisse zu üben (Theologie Bd. 1, 135).
In der Frage der christologischen Auslegung ist von Rad jedoch vorsichtig. Vor allem fragt er sich: Wie war es möglich, daß die Urchristenheit das ganze Alte Testament als Profetie auf Jesus Christus lesen und verstehen konnte? Und er antwortet: Man kann das Alte Testament nicht anders lesen als als ein Buch der ständig wachsenden Erwartung (Bd. 2, 329). Das Neue Testament bringt die Botschaft, daß Gottes Königsherrschaft schon begonnen hat. Daraus ergibt sich auch ein neues Verständnis des Alten Testaments, das sich grundsätzlich vom Verständnis des gesetzestreuen Judentums und der Qumraner unterscheidet. Im Mittelpunkt steht nicht mehr das Gesetz, sondern wie alles, was im Alten Testament geschieht, auf das Kommen des Messias hinweist.
Die alttestamentlichen Stoffe, auf die das Licht Jesu Christi fällt, machen eine Verwandlung durch, eine ganz legitime Verwandlung (Bd. 2, 344), als ob sie neu angeordnet und klassifiziert worden wären - denken Sie an das Beispiel vom Wald am Anfang dieses Buches! Es geht nicht um eine typologische Auslegung wie in älterer Zeit. Die ist nach von Rad heute nicht wiederaufzunehmen (Bd. 2, 330). Die Analogien zwischen Altem und Neuem Testament liegen nicht in den Einzelheiten, wie die früheren Vertreter der Typologie meinten, sondern in dem Zeugnis von einem spezifischen Geschehen, das durch Gottes Taten und Gottes Wort in Gang gesetzt wurde und das - wie es das Neue Testament bezeugt - sein Ziel in der Offenbarung Jesu Christi hat.
Das ist annähernd dasselbe, was Danìk früher und kürzer gesagt hat (Danìk, Christus eine Revolution, 1935; von Rad, Theologie, 1960, Bd. 2, 382): Das Alte Testament zielt auf Christus, allerdings nur für den Fall, daß wir uns "im Wald" an den richtigen Platz stellen, so daß er sich uns in seiner Struktur zeigt. Aber darüber haben wir schon anfangs gesprochen. Bleibt die Frage, wie dies konkret durchzuführen sei. Von Rad beschränkt sich auf einige Andeutungen. Er sagt: Der Ausleger, der die ganze große und vielgestaltige Bewegung des göttlichen Heilshandelns und -geschehens im Alten Testament vor Augen hat, steht vor der Frage, inwiefern ihm Christus eine Hilfe zum Verstehen des Alten Testaments ist und inwiefern ihm das Alte Testament eine Hilfe zum Verstehen des Christus ist. Von Rad weiß also gut, daß die Beziehungen zwischen dem Alten Testament und Christus dialektisch sind, sie bedingen, ergänzen und erklären sich gegenseitig. Mit anderen Worten: Läßt sich hier eine Analogie ziehen? Von Rad verweist auf zwei, ohne damit sagen zu wollen, daß es nicht noch mehr gibt. Einmal ist es die Verborgenheit Gottes. Gottes Herrlichkeit ist in dem erniedrigten und leidenden Jesus verborgen, aber auch schon in dem erniedrigten und leidenden Israel, dem Knecht Gottes, wie die Klagepsalmen, besonders Ps 22, und die Profeten, besonders Jes 53, sagen. Die andere Analogie besteht nach von Rad in der Auffassung vom Glauben. Im Alten wie im Neuen Testament kann Gottes Angebot nur im Glauben beantwortet werden. Von Rad beendet seine Erwägungen über die Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament mit der Behauptung, daß das alttestamentliche HeiIgeschehen richtungweisend war für die Urchristenheit und ihr Verständnis des Heilsgeschehens in Christus. So legitimieren sich beide Testamente gegenseitig als richtig und gültig. Es ist wichtig, daß kein Glaube an Christus existiert, der sich ganz vom Alten Testament abgewandt hätte. Der marcionitische gnostische Christus ebenso wie der nur menschliche Jesus der alten Liberalen haben mit dem Christus des Neuen Testaments nichts gemeinsam, gerade weil sich seine Verkünder vom Alten Testament abgewandt haben (Bd. 2, 400). Der heftigste Widerstand gegen die Abwendung vom Alten Testament stammt aus dem Neuen Testament selbst (vgl. Rö 9 - 11).
Aus von Rads Werk geht also hervor, daß vor allem strukturelle Analogien in Gottes Handeln für die Beziehung des Alten zum Neuen Testament von Bedeutung sind. Auf sie konzentriert sich der Marburger Systematiker Carl Heinz Ratschow (*1911) in dem 1957 erschienenen Buch "Der angefochtene Glaube". Dort heißt es (S. 70): "Jesu Dasein war im ganzen wie im Einzelnen von dem her 'gestaltet', was Gott an Israel tun wollte und was er nun realisiert. Gott ist 'getreu'. Er realisiert sein Wort. Darum ist Gottes Handeln an und durch Jesus auch nur zu 'verstehen', wenn man ihn vom alttestamentlichen Wort aus interpretiert". Daraus ergibt sich dis Frage, auf welche Weise nach unserer heutigen Sicht des Alten Testaments Gott sich als das Gemeinsame, als Kontinuum zwischen Altem und Neuem Testament erweist. Das alte Schema von Verheißung und Erfüllung genügt hier nicht. Die Analogien in der Struktur des Handelns Gottes müssen herausgearbeitet werden. Natürlich ist mit Jesus Christus auch etwas Neues gekommen, das über das Alte Testament hinausgeht. So ist gleichzeitig über Kontinuität und Diskontinuität beider Testamente nachzudenken. Bis dahin ist Ratschows Auffassung hilfreich. In der Durchführung bleibt sie jedoch wenig bestimmt. Sie weist auf dreierlei hin: 1. Die Weise und Struktur des Handelns Gottes ist in Israel und 'als Jesus' offenbar analog. 2. Dieser, der gefallene Mensch, ist im Alten Testament und von Jesus offenbar analog gesehen. Nie hat Gottes Handeln an dem "Gegenstand seines Wohlgefallens" eine positive Anknüpfung, sie ist reines Gnadenhandeln. 3. Gott hält seinem Volk in Gericht und Gnade die Treue (referiert nach Kraus 278f). - Das ist alles richtig, aber zu allgemein. So bleibt noch eine ausdrückliche Erfassung, eine Konkretisierung der analogen Struktur und der Strukturanalogie auch nach von Rad und Ratschow die Aufgabe der alttestamentlichen Theologie und der Kern der alttestamentlichen Christologie, wenn wir diesen Ausdruck noch benutzen dürfen.
Wie sieht die gegenwärtige Situation aus? Es hat den Anschein, daß die deutschen Alttestamentler meist bei den traditionellen Positionen verharren. An der Spitze stehen heute, also 1994, die Holländer (besonders die Amsterdamer Schule: Kornelius Miskotte, Frans Breukelman, Karl Deurloo und andere) und einige Amerikaner. Als Beispiel für die zeitgenössische amerikanische Theologie kann uns B. S. Childs dienen, einer ihrer führenden Vertreter (Bevard S. Childs, Biblical Theology of the Old and New Testaments. Theological Reflexion of the Christian Bible, SCM Press Ltd., 1992, S. 476-481). In seiner Theologie von 1992, also ganz neu, widmet er der "Christologie im Kontext der biblischen Theologie" auf den Seiten 476-481 einen selbständigen Absatz. Er betont hier vor allem die Kompliziertheit der Frage. Wie das Alte, wie das Neue Testament von Christus zeugen, aber jedes anders. Das Neue Testament entfaltet seine Identität. Das Alte Testament bezeugt das andauernde Ringen um die Erkenntnis des Willens Gottes in den Ereignissen der Geschichte des Volkes Gottes, das auf das erlösende Eingreifen durch den leidenden Gottesknecht zielt (Jes 53).
Schwerpunkt ist der Bund. Der besagt, daß das Heil darin besteht, daß Gott mit seinem Volk ist, also Immanuel. Gott offenbart sich einerseits in der Geschichte Israels, also in seinem Handeln, andererseits in seinem Erwählten, vor allem in dem König, aber auch im Dienst der Priester und im Zeugnis der Profeten. So kehrt B. S. Childs zurück zu der Lehre von den drei Ämtern Christi: Seiner Meinung nach bezeugt Matthäus vor allem den König, der Hebräerbrief zeugt von dem Hohenpriester und Lukas von dem Profeten (Lk 4,18ff). Der 1. Petrusbrief (1.Pe 2.23f) faßt zusammen, indem er an den Gottesknecht erinnert. Am Schluß sagt Childs, die ständige Aufgabe der biblischen Theologie bestehe darin, das kritische Durchdenken des Zeugnisses beider Testamente von Christus zu intensivieren als die Realität, auf die hin die ganze Schrift ausgerichtet ist. Das steht dem sehr nahe, was Danìk geschrieben hat und was wir in § 3 besprochen haben.
Diese Auffassung ist im Grunde gut biblisch, solange sie behutsam und mit Maß angewendet und nicht das Alte Testament durch das Neue und das Neue Testament durch das Alte vergewaltigt wird. Alle, die das Alte Testament aufmerksam und nicht nur oberflächlich lesen, erkennen, daß es voll von Verheißungen ist, die über es hinausweisen in die Ferne und Höhe, wie von den älteren Auslegern, besonders Wilhelm Vischer und Gerhard von Rad, betont wurde. Die Verheißungen hommen hauptsächlich aus dem Munde von Profeten. Sie wissen um die Sünde des Volkes Gottes, um das Versagen Israels in seinem Auftrag, Zeuge Gottes zu sein. Es ist nötig, daß Gott selbst neu eingreift, Israel reinigt, durch das Gericht führt und so erneuert und aufs neue befähigt für die ihm gestellte Aufgabe, ja mehr - ihm so endlich das gibt, was er selbst für Israel bereitet hat. Gott kommt, er neigt sich herab, er steigt herab, er durchbricht die Bindung durch die Sünde und führt sein Volk in eine neue Freiheit, zur Ruhe und zur Freude eines neuen Zeitalters.
Gerhard von Rad zeigt überzeugend, wie das geschichtliche Versagen dieser Hoffnung Israel erstaunlicherweise nicht in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung stürzte, sondern neue Hoffnung wachsen ließ und dazu führte, daß es seine Hoffnungen auf eine entferntere Zukunft setzte. Das ist aus der üblichen Reaktion der Menschen auf ein Versagen ihrer Hoffnungen nicht zu erklären. Gewöhnlich führt es nämlich zu Frustration, Depression, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit bis hin zur Verzweiflung. Wie war es möglich, daß es in Israel nicht dazu kam oder doch nur am Rande und zeitweilig? Ich bin davon überzeugt, daß sich das nur aus dem vorborgenen Wirken des Heiligen Geistes erklären läßt, durch dessen Macht - bildlich ausgedrückt - auch die gekreuzigte Hoffnung zu neuem Leben ersteht. Anders gesagt: Die Profeten verwiesen auf Gott, und Israel wußte von Gott, daß man auch im größten Leiden noch Gutes von ihm erwarten kann. Das ist Glaube: um Gott zu wissen und auf ihn zu warten, ihm zu vertrauen, wenn alles Übrige versagt, das ist Glaube nach der Auffassung des Alten Testaments. Die profetischen Verheißungen des Alten Testaments sind also keine Hirngespinste, kein Produkt menschlicher Sehnsucht und keine Projektion von Illusionen, sondern gewachsen aus dem Glauben an Gott und darum imstande, über alles Versagen hinwegzuschreiten.
Das Neue Testament ist von dieser Hoffnung, die aus der Verheißung erwachsen ist, ganz durchdrungen und sieht sie im Kommen und im Werk Jesu Christi verwirklicht. Wir sprachen schon davon, wie oft in den Evangelien wiederholt wird: "Dies alles aber ist geschehen, damit das Wort der Schrift erfüllt würde" oder so ähnlich. Und wie oft stützen sich auch die Apostel in ihren Briefen gerade auf das Alte Testament als auf die einzige Autorität, als auf eine Äußerung Gottes, die mit nichts in der Literatur, in der Geschichte oder im menschlichen Inneren zu vergleichen ist. Gerade von daher aber, von jenen neutestamentlichen Hinweisen auf das Alte Testament, erwächst auch die Problematik dieses Verfahrens. Oft haben Christen das Alte Testment nur noch als Verheißung ausgelegt. Es verlor seine Selbständigkeit und wurde zu einem reinen Vorspiel des Neuen Testaments. Viele Juden empfinden das so, als würde ihnen das Alte Testament von den Christen weggenommen. Diese Entwicklung zieht sich durch die ganze Kirchengeschichte. Das Hauptproblem lag darin, daß die Christen sich nicht damit zufriedengaben, ihre Sicht als die Sicht des Glaubens zu betrachten.
Entscheidend ist also, wie wir das Schema Verheißung - Erfüllung verstehen, wie wir es anwenden. Wenn wir das Alte Testament als eine einzige große Verheißung dahingehend verstehen, daß Gott noch einmal eingreifen und sein Werk vollenden wird, ist das die Sicht des Glaubens. Die lehnen zwar viele ab. aber es ist eine in sich geschlossene, in sich stabile, logische Sicht, weil es auf diese Weise nicht nötig ist, eine Auswahl geeigneter Stellen im Alten Testament vorzunehmen und auch solche Stellen auf Christus zu beziehen, deren Inhalt zumindest exegetisch umstritten ist. Wenn wir dagegen von einzelnen Stellen des Alten Testaments ausgehen und aus ihnen ein umfassendes Bild Jesu, seiner Person und seiner Geschichte ableiten wollen, verwandelt sich die Christologie unter unseren Händen in eine problematische "Jesulogie". Darüber sprechen wir ausführlicher in § 16.
Schon die griechischen antiken Dichter und Redner hatten diese Methode ausgearbeitet. Sie bedienten sich ihrer bei der Auslegung alter Sagen und Gedichte, etwa von Homer, um sie ihren Zeitgenossen nahezubringen. Vor allem setzten sie für die Götter philosophische Begriffe ein und verwandelten so die alten Sagen in eine philosophische Lehre. Sie behaupteten sogar, daß diese Lehre von Anfang an chiffriert in ihnen enthalten war, daß ihr Inhalt von Anfang an bildlich gemeint war und daß erst die allegorische Auslegung den wahren Sinn dieser alten Erzählungen enthüllt. So ist etwa der Gott Zeus der Verstand, der Held Achilles die Sonne, Helena die Erde usw. So konnte man eigentlich in jedes alles hineinlegen, wenn nur der Ausleger genug Vorstellungskraft hatte und seine Einfälle überzeugend genug darstellen konnte. Deshalb lehnten die Philosophen, besonders Platon, die allegorische Auslegung ab. Nichtsdestoweniger benutzten sie sie in der Praxis doch, einige sogar ziemlich häufig, die Stoiker z.B., wenn sie für ihre Lehren in alten Sagentexten oder Gedichten Belege suchten. In der Zeit des späten Hellenismus, also nach Alexander dem Großen (+323 v.u.Z.), erfuhr die Allegorie einen großen Aufschwung. Zentrum der hellenistischen Kultur wurde anstelle des älteren Athen das ägyptische Alexandrien, wo die kunstliebenden Ptolemäer regierten und die größte Bibliothek des Altertums, das berühmte Musaion errichteten. Dort konzentrierte sich dann die literarische Forschung und arbeitete auch die allegorische Methode weiter aus.
Es ist nicht verwunderlich, daß die Allegorese in Alexandrien auch unter den Juden gepflegt wurde, die dort einen bedeutenden Teil der Bevölkerung bildeten. Der erste jüdisch-hellenistische Philosoph, von dem wir Nachrichten haben, war Aristobulos. Er lebte im 2. Jahrhundert vor Christus in Alexandrien. Von seinen Schriften sind uns nur Bruchstücke in Form von Zitaten in Büchern späterer Schriftsteller erhalten. Wir wissen durch sie, daß Aristobulos eine griechische Erklärung des Mosegesetzes geschrieben hat, mit der er den Gebildeten seiner Zeit beweisen wollte, daß im Gesetz, richtig verstanden und das heißt allegorisch, schon alles enthalten ist, was die griechischen Philosophen lehrten. Die mußten das also von Mose übernommen haben, anders läßt sich das nach Aristobulos nicht erklären.
Der bekannteste Vertreter des hellenistischen Judentums ist Philo von Alexandrien. Er lebte von ungefähr 13 vor bis 40 nach Christus und errichtete auf der allegorischen Auslegung des Alten Testaments eine ganz eigene Lehre. Er hat eine Reihe von Büchern geschrieben, besonders den großen allegorischen Kommentar zur Genesis. Auf ähnliche Weise bearbeitete er systematisch auch die Gesetze aus den Mosebüchern; und er legte eine katechetische Erklärung der Bücher Genesis und Exodus vor. Kern seiner Lehre war die Überweltlichkeit Gottes, weswegen er zur Fühlungnahme mit der Welt Vermittler brauche. Das seien zum einen das Wort Gottes, der Logos, und zum anderen die göttliche Weisheit, die Sophia (vgl. Spr 1-9). Der Leib sei das Gefängnis der Seele. Deshalb sei es nötig, sich von allem Materiellen und Körperlichen freizumachen und die Verzückung oder Ekstase durch Gott zu erleben. Philo ist also der erste bedeutende jüdische Mystiker. Für ihn bezeichnend ist eine Mischung von biblischem Zeugnis und Platonismus, wie sie später von der Gnosis noch weiterentwickelt wurde. Auch in ihr hatte die allegorische Auslegung fruchtbaren Boden. Sie knüpfte an die alte Vorstellung an, daß Götter sich in Rätseln, geheimnisvollen Ritualen, Orakeln und Mysterien äußerten. Man denke an die delphische Priesterin Pythia - ihr Name ist von dem griechischen Verb pynthanomai = 'befragen, sich erkundigen' abgeleitet und zwar im Sinne 'die Götter befragen', um eine Nachricht oder eine Weissagung zu bekommen. Ihre unverständlichen, angeblich allegorischen Aufschreie mußten erst ausgelegt werden. Das taten die Priester, die man Profeten nannte.
Wenn auch erst die Griechen die Allegorie als durchdachte Methode der Auslegung erarbeiteten, finden wir doch in der Bibel eine Reihe von Stellen, die eine Art entwickelte Metapher sind, durch den Vergleich und durch diesen Ansatz zur Allegorie. Das sind etwa Jes 5 das Lied vom Weinberg - der Kirche, oder Ps 80,9-20 vom Weinstock, von der Tochter Jerusalem, also wieder der Kirche oder Hes 16 vom Volk, von Adler und Zeder Hes 17, von der Löwin Hes 19, von Samaria und Jerusalem Hes 23, von der Zeder Hes 31, von den Schafen - den Seelen Hes 34, von dem Lamm - der Seele Ps 23. Weiter gehören hierher Josefs (Gen 37,7-11) und Pharaos Träume (Gen 41,17-24) und einige Visionen der Profeten Sacharja und Daniel. Es ist aber notwendig anzumerken, daß die alttestamentliche 'Allegorie' aus anderen Wurzeln erwächst: sie ist das weiterentwickelte Gleichnis (griechisch Parabel, hebräisch maschal), das durch den konsequenten Gebrauch einer Reihe von Analogien und Metaphern nach der Regel des Parallelismus membrorum entstand. Das ist eine dichterische Ausschmückung oder Redeweise, in der ein und dieselbe Sache mehrmals gesagt oder beschrieben wird, etwa: "Der Herr ist meine Kraft, Gott ist mein Heil." An die alttestamentlichen Ansätze zur Allegorie knüpfen einige neutestamentliche Gleichnisse an, die sich auch sehr der Allegorie nähern wie z.B. das Gleichnis vom Säemann (Mk 4,3-8 mit der Auslegung 13-20; vgl. Mt 13,3-23). In den Briefen treffen wir häufiger auf Anzeichen von Allegorie, etwa Röm 11,17-24; 1.Kor 3,10-15; 5,6-8; 12,12-27; 1.Pe 2,4-8; Hebr 13,10-14. Es ist jedoch umstritten, ob es um regelrechte Alllegorien geht. Der Übergang zwischen Gleichnis und Allegorie ist fließend. Für echte Allegorien werden 1.Kor 5,6-8; 9,9 und Gal 4,22-31 gehalten. Der Ausdruck Allegorie ist jedoch weder im Alten noch im Neuen Testament belegt, das Verb allegorisieren (allegorein) nur einmal und zwar Gal 4,24, wo der Apostel von den beiden Bergen spricht, die die beiden Testamente versinnbildlichen. Die johanneischen Schriften gebrauchen besonders häufig die bildliche Rede. Es ist aber fraglich, ob ihre Metaphern für Allegorien gehalten werden sollten.
Bei der richtigen Erfassung dessen, was noch nicht und was schon Allegorie ist, ist unter anderem wichtig, daß deutlich wird, daß die ursprüngliche Erzählung, allegorisch ausgelegt, zuvor einen anderen Sinn hatte. Das ist bei den biblischen Allegorien nicht der Fall. Die sind nicht erst sekundär und nachträglich umgedeutet, sondern gleich bei ihrer Entstehung bildlich gemeint. So haben sie durchgehend den Charakter von Beispielen. Sie sind eher Illustrationen als systematisch umdeutende Auslegung, die dem zugrundeliegenden Text einen neuen, anderen und abweichenden Sinn gibt. Erst der Barnabasbrief benutzt die Allegorie exegetisch und nicht nur als Illustration zur Erklärung des Alten Testaments. Diese Schrift stammt wahrscheinlich aus Alexandrien oder ist zumindest beeinflußt von alexandrinischer Denkungsart. Für sie war gerade die allegorische Methode kennzeichnend. Die wurde besonders in der christlichen "Katechetenschule" gepflegt, die wir vielleicht mit einer theologischen Fakultät gleichsetzen könnten und die an eine ältere jüdische Ortstradition, besonders an die Konzeption Philos anknüpft. Zwei Theologen dieser Katechetenschule sind uns näher bekannt, die bedeutendsten Meister der Allegorie in der ganzen Geschichte der christlichen Theologie und der Auslegung der Bibel.
Der erste, Clemens, mit ganzem Namen Titus Flavius Clemens, lebte in Alexandrien und leitete die Katechetenschule. Er starb ungefähr 215 n.Chr. Er hat sie nicht gegründet, wir kennen den Namen seines Lehrers und Vorgängers Pantenos. Ähnlich wie Philo knapp zweihundert Jahre früher auf dem Boden des Judentums bemühte er sich um eine große Synthese der griechischen, vor allem der platonischen Philosophie mit dem Christentum. Dabei diente ihm gerade die allegorische Methode als Brücke zwischen den beiden ungleichen Strömen. Christus, sagt Clemens, ist der Höhepunkt von allem, auch alles menschlichen Wissens und also auch des Alten Testaments und der griechischen Philosophie.
Noch gründlicher arbeitete der Nachfolger und Schüler des Clemens, Origenes (+254), die Beziehung des Alten Testaments zu Christus heraus. Er benutzte das Alte Testament allerdings hauptsächlich in seiner griechischen Gestalt, also in der Übersetzung, der sogenannten Septuaginta. Ihre Geltung und Maßgeblichkeit verteidigte er gerade auch durch die allegorische Methode. Er hat viele Bücher geschrieben. Etliches ist uns erhalten. Auch wenn er später als Häretiker verurteilt wurde, haben seine Bibelauslegungen doch das ganze Mittelalter beinflußt. Ein kleines Beispiel: Sogar die Predigt von Jan Hus in seiner Postille hält sich noch an Origenes' allegorische Auslegung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter.
Die allegorische Auslegung bewirkte, daß bei der Bibel später zweierlei, dreierlei und sogar viererlei Sinn unterschieden wurde, und das überall, in den Erzählungen und auch in den Belehrungen.
a) Bei zweierlei Sinn war der erste der wörtliche, lateinisch: sensus litteralis, der zweite der geistige, der sensus spiritualis, der übertragene, bildliche Sinn, zu dem auch die Allegorie gehörte.
b) Bei der Unterscheidung von dreierlei Schriftsinn war der erste der körperliche, wörtliche oder historisch-grammatische; der zweite der moralische oder auch psychische und der dritte der geistliche oder allegorisch-mystische. Dieser dreifache Sinn sollte die vermeintliche Dreiheit des Menschen widerspiegeln, der aus Körper, Seele und Geist bestehe.
c) Bei viererlei Sinn wurde unterschieden: 1. der wörtliche oder historische Sinn, 2. der allegorische Sinn, auf Christus bezogen und bestimmend, was zu glauben ist, 3. der lehrhafte oder moralische Sinn, also was zu tun ist, und 4. der anagogische Sinn, von griechisch: anago = hinaufführen, also in die Zukunft weisend. All das faßt der folgende hübsche lateinische Merkvers zusammen: "Litera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia" = Der Buchstabe lehrt das Ereignis; was zu glauben ist, lehrt die Allegorie. Der moralische Sinn lehrt, was zu tun ist, und wohin es zielt, lehrt die Anagogie.
Die Reformation lehnte diese scholastische Klassifizierung zu recht ab. Sie hatte richtig erkannt, daß gerade und vor allem die Allegorie leicht die Tür zu einer sehr eigenwilligen Schriftauslegung öffnen kann und auch geöffnet hat. Deshalb bekennt sich seit der Reformation keine theologische Schule mehr direkt zur Allegorie. Auch kann man von ihr kaum eine wichtige Hilfe für die Auslegung des Alten Testaments und beim Versuch einer Christologie des Alten Testaments erwarten. Daß die Allegorie bis heute oft auf den Kanzeln gebraucht wird, ist eine andere Sache. Soweit es um eine Ausnahme geht und um eine bloße Illustration, läßt sich kaum etwas dagegen einwenden. Wenn daraus jedoch eine exegetische Methode gemacht wird, ist das bedenklich.
Den Gedanken an eine Vorlage, ein Muster, einen Typus kann man schon im Alten Testament selbst finden, wenn auch nur an einigen Stellen, am deutlichsten da, wo geschildert wird, daß Mose die Stiftshütte oder genauer ein Zelt für die Begegnung mit Gott errichten lassen soll. Er soll dabei nicht nach seinen eigenen Vorstellungen vorgehen, sondern sich an das Modell halten, das ihm Gott auf dem Berg Sinai gezeigt hat (Ex 25,9.40). Der hebräische Text hat an beiden Stellen den Ausdruck tabnit, abgeleitet von dem Verb bana - bauen. Der griechische Text hat in V. 9 paradeigma, in V. 40 typos. Der Ausdruck tabnit kann sowohl das Modell eines Baues (Ex 25), als auch das Modell des Altars (Jos 22.28; 2.Kön 16,10) oder das Modell bzw. den Entwurf des Tempels bezeichnen (Ps 144,12; 1.Chr 28,11-19). Es kann aber auch ein Modell - ein 'Gleichnis', ein Abbild sein, etwas, was ähnlich aussieht, aber nicht dasselbe ist - menschliche Hände bei den Engeln, den Cherubim (Hes 8,3; 10,8) - und das Wort tabnit kann sogar auch 'Götzenbild' bedeuten (Dtn 4,16-18; Ps 106,20; Jes 44,13; Hes 8,10).
Dahinter steht offensichtlich ein Gedanke, der im alten Orient ziemlich verbreitet war, daß nämlich der irdische Tempel ein Sinnbild, ein Antitypos des himmlischen Tempels sei, der Garten bei dem Tempel dann ein Sinnbild, ein Antitypos des Paradieses usw. Das Himmlische ist allerdings immer vollkommener als das Irdische, das sein himmlisches Urbild, den Prototyp, nur nachbildet. Wir würden heute sagen: Im Himmel ist der Prototyp, auf der Erde sein Abbild oder Modell.
Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zu der alten Regel der Analogie "wie im Himmel, so auch auf Erden", "wie oben, so auch unten". Die Städte, die Länder, die Flüsse und Berge haben ihre himmlischen Urbilder. Das war die Grundlage der babylonischen Zukunftsschau, besonders der Astrologie (von Rad, Theologie des Alten Testaments Bd. 2, 378). Am eindrucksvollsten kommt dieses Denken in Platons Lehre von den himmlischen Ideen zum Ausdruck, die sich in den Dingen unserer materiellen Welt widerspiegeln. Solcherlei räumliche Typologie führt uns jedoch über den Neuplatonismus mit Sicherheit zur Gnosis und zur Anschauung der himmlischen Dinge mit Hilfe der irdischen.
Aber in der Bibel geht es nicht um Analogien zwischen Dingen und Gestalten, sondern zwischen verschiedenem Geschehen, vor allem zwischen dem Geschehen am Anfang und am Ende der Geschichte. Schon L. Goppelt versuchte das 1939 in einem sehr wichtigen und anregenden Buch zu zeigen (Typos, Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen, Gütersloh 1939). An seine Gedanken knüpfte 1959 Stanislav Heømanský in seiner Habilitationsschrift an (Grundlegende Probleme der biblischen Typologie. Beitrag zur biblischen Hermeneutik, Prag 1959), so daß wir zu diesem Thema auch tschechische Literatur haben. Heømanský beschäftigt sich vor allem gerade mit der Frage der Analogie in der Zeit. Deshalb analysiert er die Auffassung von Zeit in der Bibel und die Frage ihrer Erfüllung. Er zeigt die Bedeutung des Aktes der Erinnerung im israelitischen Gottesdienst, in dem das vergangene Wirken Gottes und das zukünftige, erwartete göttliche Handeln vergegenwärtigt werden. Die Analyse einer Reihe von Bibeltexten läßt ihn zu dem Schluß kommen, daß der Gegenstand der typologischen Interpretation das Zeugnis von Gottes Heilshandeln ist. Darum steht die Typologie der Auslegung des Alten Testaments als Verheißung und des Neuen Testaments als Erfüllung nahe. Es gibt aber auch einen Unterschied. In der Verheißung kündigt ein Bote Gottes die Zukunft an, die nur ihm offenliegt, die nur er selbst sieht. Die Typologie sieht jedoch in dem erlösenden Handeln Gottes in der Vergangenheit direkt ein Vorbild, eine Vorgabe, einen Typos oder ein Modell des zukünftigen göttlichen Handelns, eines Handelns in der Fülle der Zeit, also eines eschatologischen Handelns. Ohne den Nachdruck auf der Eschatologie ist also die entworfene Typologie nicht durchführbar (S. 72). Die Haupttypen der Typologie sind die Befreiung aus Ägypten, die Modellfunktion für die ganze Geschichte Israels und auch für die christliche eschatologische Erwartung hat, und weiter der König David und seine Königsherrschaft, aus der die Messiashoffnung entsteht.
Auch Gerhard von Rad beschäftigt sich in seiner "Theologie" (Bd. 2, 377-382) mit der Typologie. Im wesentlichen lehnt er sie ab. Er wiederholt kurz ihre Geschichte. Sie entwickelte sich schon nach der Ablehnung der allegorischen Methode zur Reformationszeit. Ihren ersten Höhepunkt erreichte sie im 17. Jahrhundert und zwar hauptsächlich unter reformierten Theologen (z.B. Cocceius, der von 1603-1669 lebte und ein Vertreter der Theologie war, die den Bund Gottes mit Israel in den Mittelpunkt stellte). An dieser Typologie der orthodoxen Epoche hat von Rad zweierlei auszusetzen: Zunächst die Bildung künstlicher "Typen Christi", wo im Alten Testament nur immer möglich. Darüberhinaus aber auch, daß durch solche Typologie die Beziehung zur Heilsgeschichte verlorengeht und man sich auf weiter nichts als abstrakte "religiöse Wahrheiten" konzentriere wie besonders Michaelis (1717-1791). Die Typologie verwandelte sich in eine allgemeine Lehre von Symbolen und Bildern. Die Aufklärer wollten sogar zeigen, wie die biblische Symbolik auf allgemeinmenschliche Bedürfnisse und allgemeinmenschliches Einsichtsvermögen antwortet. Es ist kein Wunder, daß diese erste Welle der Typologie im 19. Jahrhundert verebbte.
Von Rad erinnert mit Recht daran, daß sich unsere Sicht des Alten Testaments so sehr verändert hat, daß wir in ihm heute nicht mehr Typen der Frömmigkeit und allgemeingültiger religiöser Wahrheiten suchen können. Das Wissen um die Entstehung des Alten Testaments als ein lebendiges Zeugnis des Glaubens an Gottes große Taten, die im Kult ständig dargestellt wurden, hindert uns daran. Niemals existierte eine einheitliche "Religion des Volkes Israel", bestehend aus einer Ansammlung fester Vorstellungen von Gott, vom Menschen und ihrer Beziehung zueinander. Das hat selbstverständlich auch Einfluß auf das Verständnis der Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament. Was verbindet sie? Was ist ihnen geminsam? Sicher nicht ein allgemeines System religiöser Werte, sondern der gemeinsame Raum eines spezifischen Geschehens, das sie in die Bewegung des Wirkens und des Wortes Gottes einbrachten und das nach dem Zeugnis des NT in Jesus Christus sein Ziel hat.
Deshalb, sagt von Rad, ist es heute nicht mehr möglich, eine solche Typologie wieder aufleben zu lassen, die den großen Strom des biblischen Geschehens zergliedert, atomisiert in einzelne Analogien und auf ihnen die Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament aufbauen will. Darin, daß wir die Typologie nicht wieder aufnehmen können, soweit wir darunter den Vergleich von Einzelheiten ohne größere Zusammenhänge verstehen, hat von Rad zweifellos recht,
Vom Gesichtspunkt des Gottkönigtums her ist auch der päpstliche Primat bedenklich, der Anspruch des Papstes, der einzige Stellvertreter Christi für die ganze Christenheit, ja für alle Menschen zu sein. Auch bei einigen protestantischen Strömungen gibt es eine Tendenz zum Gottkönigtum, wenn sie die Obrigkeit als Dimension Gottes auffassen. Dagegen wendet sich die reformierte Strömung die den Grundsatz einer nichtgöttlichen, nichtsakralen, nichtheiligen Obrigkeit vertritt.
Die Erforschung des Gottkönigtums wurde besonders im Norden Europas, in Skandinavien, vorangetrieben. Manchmal wird die Uppsaler Schule als deren Hauptströmung genannt, nach ihrem Zentrum, der schwedischen Universitätsstadt Uppsala. Aber die Uppsaler Schule hatte auch woanders Vorgänger und Vertreter: in Norwegen (Mowinckel), in Dänemark (Bentzen) und England (Johnson, Myth and Ritual School). Die Vertreter dieser Schule entdeckten fast auf jeder Seite des Alten Testaments Gottkönige. Darüberhinaus bemühten sich einige von ihnen, das Gottkönigtum im Alten Testament zum Ausgangspunkt einer neu verstandenen alttestamentlichen Christologie zu machen. Der Versuch mißlang und ist im Weltmaßstab schon abgeklungen. Nichtsdestoweniger geht es um ein interessantes Konzept, das auch in der Tschechoslowakei Widerhall fand. Eine eindrückliche und informativ gute Zusammenfassung ist das Buch "Messias - Mose redivivus - Menschensohn" des Kopenhagener Alttestamentlers Aage Bentzen. Es liegt tschechisch vor und wurde 1953 in Prag veröffentlicht. Worum geht es dabei?
In den Nordländern gelang es - und das hängt nicht mit Danìk zusammen, aber zeitlich war es nach Danìk, die sakrale Rolle des Königs zu entdecken, die Königsideologie, wie sie sagen, also das Gottkönigtum im alten Orient. Sie erkannten, daß auch das Alte Testament eine Reihe von Wendungen und Bildern von dort übernommen hat. Es gelang ihnen aber nicht nachzuweisen, daß das Thronbesteigungsfest des Königs, der - angeblich nach heidnischer Art - Gott repräsentierte, alljährlich stattfand. Alles alttestamentliche Material spricht gegen diese Vermutung. Und in der Hauptsache: Die Skandinavier blieben beim Vergleich der Parallelen zwischen dem alten Orients und dem Alten Testament stehen. Sie stellten sich nicht - oder nicht deutlich genug - die Frage nach der Eigenart des AIten Testaments und seiner Botschaft, von der Danìk ausging. Erst diese Frage führt uns von der Religionsgeschichte zur Theologie.
Wenn wir die Stellung des Königs im Alten Testament überprüfen, werden wir sehen, wie die alttestamentliche Überlieferung höchstes Interesse daran hat, den König so weit wie möglich von Kult und priesterlichen Funktionen fernzuhalten; zweifellos gerade deshalb, damit er kein Gottkönig im vollen Sinn des Wortes werden konnte. Ein Beispiel für alle: Als sich Saul erdreistet, nach eigenem Willen Opfer darzubringen, muß er das mit dem Verlust des Königtums bezahlen (1.Sam 13,8-14). Natürlich war die historische Wirklichkeit, die hinter dem alttestamentlichen Geschehen steht, gewiß vielschichtiger und nicht nur einmal auch "heidnischer" als das, was später im normativen kanonisierten Wortlaut überliefert wurde. Aber wir sind bei der Auslegung des Alten Testaments an den Text gebunden, nicht an seine historischen Rekonstruktionen, die nichts als Vermutungen bleiben können. Und die Absicht der biblischen Berichterstattung ist hier ganz eindeutig. Im ganzen Alten Testament geht es um die Kritik des Gottkönigtums und damit auch jedes anderen Versuchs, Gott seine Gottheit und dem ewigen König sein Königtum zu rauben. Die Rolle des sakralen Königs war und ist der Weg nach oben. der Weg zur Vergöttlichung des Menschen, der Weg der Apotheose, zu dem schon die Schlange im Paradies verleiten wollte (Gen 3.5). Der Weg Gottes geht in die umgekehrte Richtung, von oben nach unten. Das Gottkönigtum kann nicht die tragende Grundlage für ein neues Konzept alttestamentlicher Christologie sein. Wir müssen weiter suchen, nicht aber auf einem Weg, der von unten nach oben führt, sondern auf dem entgegengesetzten von oben nach unten.
Und das ist - wie die Überschrift dieses Absatzes sagt - das Ende aller "Jesulogie". Ich will das Wort erklären. Es ist mein, absichtlich unschöner Ausdruck für eine Lehre, ein Unterfangen, Beziehungen zwischen den menschlichen Zügen Jesu und verschiedener alttestamentlicher Gestalten zu suchen, für das Bemühen von Exegeten um äußere Analogien zwischen persönlichen Eigenarten oder Erlebnissen alttestamentlicher Gestalten und Jesu Christi. Christus geht uns in der Regel dabei verloren. Es bleibt nur Jesus, der religiöse, vorbildliche, verehrungswürdige Jesus, aber Gott und sein Handeln fehlen. Solche "Jesulogie" wurde von älteren Auslegern gepflegt, um auf diese Weise fast greifbar, gegenständlich und unwiderlegbar zu zeigen, daß Jesus der beste aller Menschen und deshalb der erwartete Messias des Alten Testaments ist. Oft wurde von einer "Christusfigur" gesprochen.
Das Wort 'Figur', wir könnten auch 'Vorbild' oder 'Typos' sagen, steht im Neuen Testament in der Übersetzung der Kralitzer Bibel 1.Kor 10,11 (Luther: "Solches widerfuhr jenen als ein Vorbild..."). Der griechische Text liest "typisch", die Vulgata "in figura".
Sehen wir uns einige solcher alttestamentlichen 'Figuren' an. Orientieren wir uns an den Personen oder ihren Eigenschaften, versagen die Analogien. Konzentrieren wir uns aber auf das, was geschieht, wird es durchscheinend. So z.B. Josef in Ägypten. Ist er eine Figur, ein Vorbild Christi? Aber er verklagt seine Brüder (Gen 37,2), während Jesus für sie bittet; er rühmt sich (Gen 37,5-11), während Jesus sich demütigt. Josef versteht es, sich beliebt zu machen, er macht Karriere. Darin steht er im Gegensatz zu Christus. Und doch hatte Gott ihn auserwählt, um durch seine Hände die Hungrigen zu sättigen. Es ist deutlich zu erkennen: Die Analogie besteht im Handeln Gottes an Josef und an Christus. - Oder Josua. Der wurde schon seines Namens wegen zur Christusfigur erklärt, im Hebräischen ist sein Name nämlich gleichlautend mit dem Namen Jesus. Noch in der griechischen Septuaginta sind beide Namen identisch. Und doch verstand Josua Gottes Pläne nicht (Num 11,28), er brauchte viel Ermutigung (Jos 1) usw. Und doch hatte Gott ihn erwählt, um durch ihn sein Volk ins verheißene Land zu führen. So könnten wir fortfahren, von einer alttestamentlichen Gestalt zur anderen, Gott handelt selbstverständlich durch Menschen, die seine Werkzeuge sind. Aber das Werkzeug ist nicht wichtig. Es liegt nicht allzu viel daran, woraus es besteht und wie seine Gestalt ist, wenn es sich nur mit ihm arbeiten läßt. Und Menschen sind Werkzeuge, sofern sie gehorchen. Solange sie nicht Gottes Werkzeug sein wollen - und sie können nicht wollen, wenn Gott ihnen das Wollen durch seinen Geist nicht gibt - sind sie es nicht.
Der eigentliche Mangel der typologischen Methode ist, daß die Entscheidung in der Hand des Exegeten bleibt. Er bestimmt, was wo Typ und Antityp ist. Und dadurch macht er aus der Bibel, die Gottes Zeugnis sein will, eine Ansammlung menschlicher Argumente, gleichsam ein Zeughaus für dogmatische Auseinadersetzungen, ein Waffenlager.
Sicher steht Jesus Christus im Zentrum der Botschaft des Neuen Testaments wie im Glauben eines jeden wirklichen Christen. Es ist aber nötig, genau zu sagen, was uns an ihm wichtig ist. Vielleicht, wieviel er wog oder wie groß er war, wie tugendhaft und weise? Oder daß Gott selbst einzigartig durch ihn handelte und durch ihn, den Lebendigen und Auferstandenen, handelt? Gott in Christus, Gott, zur Erde herabgestiegen in Jesus von Nazareth, durch den er sein Heilswerk an uns vollendete, das ist das eigentliche Thema des Neuen Testaments, keineswegs der hochgewachsene, schöne, tugendhafte und kluge Mensch Jesus, der so ergreifend von Gott reden konnte. Wenn Jesus sich Gott ausgedacht, wenn er gelogen hat, dann muß uns weder er selbst noch seine Lehre interessieren. Hingegen, wenn Gott selbst einzigartig durch ihn handelte und handelt, kann es niemals jemanden geben, der uns mehr interessieren sollte. Und dann steht im Mittelpunkt aller Dinge der Weg, den Jesus zu uns genommen hat und auf den er uns führt.
Schon Wilhelm Vischer (Christuszeugnis Bd. 1, 13-32, besonders 27f) verwahrt sich gegen die Jesulogie und noch nachdrücklicher Kornelius Heiko Miskotte (in seinem Buch "Wenn die Götter schweigen", München 1963, S. 150). Er sagt dort: "Daraus folgt, daß wir nicht eine Auswahl, eine Blütenlese (z.B. die messianischen Weissagungen) als Christuszeugnis aussondern können - allein schon um die Freiheit von Gottes eigener Botschaft nicht zu beschränken." Und weiter zitiert er Gerhard von Rad ("Fragen der Schriftauslegung im Alten Testament, 1938, S. 7): "Wir hören auf das Alte Testament nicht deshalb, weil die Zahl der Stellen, die uns einleuchten, so groß ist, sondern weil wir dem Wort der Apostel und Jesu Christi glauben, daß der Gott, von dem das Alte Testament redet, der Vater Jesu Christi ist". Und dazu noch Miskotte (S. 166): "Es kann denn auch ganz und gar nicht die Absicht einer wohlberatenen christlichen Unterweisung sein, die Botschaft von Christus rückinterpretierend ins Alte Testament einzutragen. Es verhält sich vielmehr so, daß wir, umgekehrt, vom Alten Testament immer wieder zu lernen haben, was eigentlich der Inhalt, der Sinn und die Absicht dessen ist, was wir 'Christus' nennen."
Es gibt einen Ort, von dem aus sich die Bäume im Wald wieder ordnen und einen Durchblick ermöglichen. Und dort sehen wir, daß das Schlüsselgeschehen in der ganzen Bibel in der Herabneigung Gottes zum Menschen besteht, darin, daß Gott herabgestiegen ist und herabsteigt. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist das Werk des liebenden Gottes, der dem Menschen nicht fern bleibt, sondern aus eigener Initiative in Hör- und Sichtweite, ja endlich in Christus sogar in Reichweite kam. um zu helfen und zu retten.
Das alles ahnte sogar auch ein Romanschriftsteller, einer der größten allerdings, Thomas Mann (Joseph, der Ernährer), der - freilich mit ironischem Unterton - Gottes nach unten gerichteten "Ehrgeiz" beschreibt: "Der Gemütsbereich, an den sie sich wandten, war der Ehrgeiz - der notwendig ein Ehrgeiz der Herabsetzung, ein niederwärts gerichteter Ehrgeiz war; denn im obersten Falle, wo jeder Ehrgeiz nach oben undenkbar ist, bleibt nur ein solcher nach unten übrig: ein Ehrgeiz der Angleichung und des Auch-sein-wollens-was-die-anderen-sind, ein Ehrgeiz nach Aufgabe der Außerordentlichkeit." Scharfsinnig, mag man denken. Aber das ist nur - gerade in Mann's Darstellung - die Sicht der neidisch schleicherischen Engel, die auf Josef eifersüchtig sind. Wahrheitsgemäß und geradeheraus nennt man diesen "Ehrgeiz nach unten" anders, nämlich Liebe. Das sagt ohne die Thomas Manns Ironie direkt und genau S. Danìk (Christus - Revolution, Prag 1932, S. 14): "Diese Tricks und Verlegenheiten werden denen erspart, für die Gott die Liebe ist. Dann ist auch die Offenbarung selbst eigentlich Selbstverleugnung für ihn, wie er sie auch von seinen Boten fordert, für uns am deutlichsten von den alttestamentlichen Profeten (Jeremia). Umso weniger ist irgendein Eingriff, der die rettende Gnade verkündet, für ihn anders zu verwirklichen als durch Selbstaufopferung, wie er 'zuletzt' in der Fülle der Zeit durch seinen Sohn zu uns in der sehr klaren Sprache des Kreuzes geredet hat."
Zusammenfassend: Den liebenden Gott, der die Liebe ist. zieht es zu den Geliebten und also nach unten in ihre Not und in ihre Gefangenschaft durch die Sünde. Es ist nicht der Mann'sche "Ehrgeiz nach unten", sondern die sich selbstverleugnende Liebe (Phil 2-6-8).
Eigentlich erzählt das ganze Alte Testament von der Herabneigung resp. Zuneigung Gottes zu seinem Volk. Nicht aber nur in den Erzähltexten geht es darum, sondern sie ist auch der Kern der profetischen Verheißungen, sie wird in den Psalmen und anderen hymnischen Abschnitten gerühmt und ist sogar in den zentralen theologischen Antworten verborgen wie z.B. in dem Bericht über die Offenbarung des Gottesnamens am Horeb (Ex 3,1-15). Der Name Gottes ist dort im ursprünglichen hebräischen Wortlaut mit vier Konsonanten geschrieben JHWH, deshalb der aus dem Griechischen stammende Ausdruck Tetragramm (vier Buchstaben). Mit seiner Aussprache ist es ein Problem. Die Juden sprachen in späterer Zeit den Namen Gottes gar nicht aus und sagten anstelle dessen 'Herr', hebräisch 'adonaj', so daß die Forscher den ursprünglichen Klang des Tetragramms nur schwer aus alten Erwähnungen und hauptsächlich aus Eigennamen rekonstruieren können. Wahrscheinlich sprach man ihn in früherer Zeit Jahu oder Jaho aus, später etwa Jahwe. Ganz bestimmt wurde er in Israel niemals Jehova genannt. Das ist eine unrichtige Form, entstanden dadurch, daß man den Konsonanten des Tetragramms die Vokale des Wortes adonaj bzw. edonaj hinzugefügt hat. Wichtig ist jedoch die Bedeutung, wir könnten sagen: die Botschaft des Namens. Wir wissen zwar nicht sicher, woher er stammt, ob er schon vor Israel existierte, aber Ex 3,14 sagt uns sehr deutlich, wie er zu verstehen und auszulegen ist. Das hebräische Verb 'sein', von dem dieser Name abgeleitet ist, bezeichnet im Hebräischen kein ruhendes und beständiges Sein wie bei uns, sondern eine aktive, wirkende Vergegenwärtigung.So könnten wir den Satz "Ich bin, der ich bin" näher ausführen: Ich bin der wirksam Gegenwärtige und zwar aus eigenem Willen und eigener Entscheidung, nicht erst auf Grund von Anrufung und Kult, wie sich der Mensch des Altertums das Herbeirufen der Götter gewöhnlich vorstelIte. Hinter der Frage Moses und der Antwort Gottes steht nämlich nicht die Vorstellung, Mose hätte sich durch diesen Namen vor den Israeliten auszuweisen wie durch eine geheime Losung, vielmehr daß die Israeliten von Mose bestimmt verlangen würden, daß er es fertigbrächte, Gott durch die Anrufung seines Namens herbeizurufen und ihn so zu vergegenwärtigen, wann immer sie ihn brauchen. Aber mit dem Gott Israels ist es anders: Er neigt sich zu uns herab auch ohne alles menschliche Rufen, aus eigenem Willen und aus seinem Erbarmen, und er ist uns viel näher und viel mehr mit uns, als wir uns vorstellen können oder als wir uns selbst bisweilen wünschen. Wir hätten Gott oft gern am Gängelband, ähnlich wie die alten Israeliten, genau: einen beherrschbaren Gott, den man durch Anrufung des Namens magisch herbeirufen oder fernhalten kann. Aber mit dem Gott Israels geht das nicht. Er neigt sich souveräne zu uns herab und ist gegenwärtig, anders als wir es planen. Ich bin der, sagt er, der mit euch ist trotz aller eurer Versuche, meine Gegenwart bestimmten Bedingungen zu unterwerfen oder sie zu regulieren. Ich bin der, der mit euch ist, mag ein jeder sagen, was er will, und mag sich jeder, der will. wünschen, was er will. Ich bin der, den ihr nicht loswerdet, Gott, der, wenn er einmal herabgestiegen ist, und sich zu euch herabgeneigt hat, nicht vertrieben werden kann und gegenwärtig ist in seiner barmherzigen Souveränität trotz all eurer Versuche, mich in eure Begriffe, Schubladen und Kategorien zu bringen und mich so letztlich unschädlich zu machen. Das ist die grundlegende Botschaft von Ex 3, keinesfalls die Nachricht von Gottes Unveränderlichkeit (ich bin, der immer ist) oder von Gottes Verborgenheit (ich bin, was ich bin). Auch so wird dieser Satz manchmal ausgelegt, aber erst die spätere Zeit legte eine solche Bedeutung in ihn hinein.
So deckt sich der Inhalt des Gottesnamens - hebräisch JHWH - eigentlich mit dem Inhalt des Namens Immanuel, der nach Jes 7,14 Titel des verheißenen Herrschers ist - des Messias. Der Name Immanuel bedeutet "Gott ist mit uns", 'im' ist eine hebräische Präposition und bedeutet 'bei, in Übereinstimmung mit jemandem', 'nu' ist Personalpronomen der 1. Person Plural in abgekürzter, angehängter Form, also deutsch in diesem Fall 'uns'. Und das Wörtchen 'el' bedeutet 'Gott'. So ist der Name Immanuel in ähnlicher Weise ein Zeugnis dafür, daß Gott hier mit uns ist, daß er uns nahe ist, weil er herabgestiegen und zu angekommen ist.
Dieses göttliche Herabneigen zum Menschen, sein Kommen und Herabsteigen, kann man an vielen biblischen Geschichten zeigen, schon von der Genesis bzw. von 1. Mose an, wo erzählt wird, wie Gott zu Abraham kam, bis hinein ins Neue Testament, wo in der Weihnachtsbotschaft daran erinnert wird - mit den Worten des Zacharias Lk 1,68 - daß Gott sein Volk besucht und erlöst hat. Aber das führt zu weit. Und so wollen wir uns lieber auf das Wesentliche des ganzen langen Weges Gottes zu den Menschen konzentrieren, und das ist das Herabsteigen Gottes.
In den heidnischen Sagen des Altertums war es anders. Da mußte man sich auf den Weg machen den Göttern nach in den Himmel oder in die Unterwelt, auf den Götterberg oder auf die Inseln der Seligen wie etwa Gilgamesch. Die Bibel warnt uns vor solchen Expeditionen. Warum? Sie sind nicht mehr nötig. Wenn sich noch jemand dazu aufmacht, hat es den Beigeschmack von trotzigem Eigensinn. Dtn 30,11-14 schreibt darüber: "Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Es ist nicht im Himmel, daß du sagen müßtest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, daß wir's hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, daß du sagen müßtest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, daß wir's hören und tun? Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, daß du es tust" (Übersetzung nach Luther). Und dieses Wort wiederholt Paulus Röm 10,5-8, wo er den Weg über das Meer auslegt als Fahren in die Tiefe, also in die Unterwelt. Er bezieht beides auf Christus und zeigt, daß der Mensch weder durch den Weg zum Himmel Christus dazu bringen kann, nach menschlichen Wünschen und Vorstellungen herabzusteigen, noch wird durch den Weg in die Unterwelt Christus von den Toten erweckt, um so selbst Herr des Lebens zu werden. Beides ist nicht nötig, weil "dir das Wort nahe ist in deinem Munde und in deinem Herzen..." (Röm 10,8). Auch das Buch der Sprüche kommt noch mit der rhetorischen Frage: "Wer ist hinaufgefahren zum Himmel und wieder herab?" (Spr 30,4). Die Antwort ist aus dem Zusammenhang zu schließen: Niemand außer Gott selbst. Wie verhält es sich eigentlich mit dem Herabsteigen Gottes im Alten Testament? Das Verb 'herabsteigen', hebräisch jarad, wird dort im Zusammenhang mit Gott nur 20 mal gebraucht. Das ist auf den ersten Blick nicht viel. Von Gottes Kommen, Sehen oder Hören wird viel häufiger geredet. Aber mit dem Herabsteigen Gottes stehen grundlegende theologische Aussagen in Verbindung. Gott fährt allerdings auch zum Gericht herab, etwa beim Turmbau zu Babel (Gen 11,5.7) oder zum Gericht über Sodom und Gomorrha (Gen 18,21). In den meisten Stellen ist freilich vom Herabsteigen Gottes auf Berge die Rede, besonders auf den Berg Sinai (Ex 19,11). Fortsetzung dieses Herabsteigens ist das Kommen mit den Wolken (Ex 34,5; Num 11,17.25; 12,5), das vom Berg weg in das Zelt der Begegnung (Stiftshütte) verlegt wird (Ex 33,9). Vom Berg Sinai wird Gottes Herabsteigen auf den Zlon übertragen (Jes 31,4; "so wird der Herr der Heerscharen herabfahren, zu kämpfen um den Berg Zion"). Die wichtigsten Stellen über das Herabsteigen sind aber die Bitten um das baldige Herabkommen Gottes und um die Durchsetzung seiner Herrschaft. So sagt der Psalmist: "Herr, neige deinen Himmel und fahre herab" (Ps 144,5) und der Profet Jesaja: "Ach, daß du den Himmel zerrissest und führest herab, daß die Berge vor dir zerflössen" (Jes 64,1 bzw. 63,19). Anderswo wird bekannt, Gott sei schon herabgestiegen in den Helden (Ri 5,13, aber der hebräische Text ist mehrdeutig), oder in den Psalmen: "Er neigte den Himmel und fuhr herab" (Ps 18,10 = 2.Sam 22,10). Und zuletzt noch die Verheißung (Mi 1,3): "Der Herr wird herausgehen aus seiner Wohnung (vielleicht vom Himmel) und herabfahren und treten auf die Höhen der Erde".
Wir können zusammenfassen: In Gottes Herabsteigen kommt seine souveräne Macht und Kraft zum Ausdruck, mit der er die Halsstarrigen richtet und die Unterdrückten befreit. Sein Herabsteigen ist gleichzeitig Offenbarung, Gericht, Hilfe und Befreiung. Vereinzelt und undeutlich wird im Alten Testament das Herabsteigen als wesentlich zusammengehörig mit dem Leiden der Leidenden laut. So ist z.B. die bekannte Stelle aus Jes 63,9 "in aller ihrer Drangsal hatte auch er Drangsal, und der Engel, der bei ihm stand, befreite sie" leider im ursprünglichen hebräischen Wortlaut wieder mehrdeutig. Die griechische Septuaginta teilt die Verse anders ab und liest (V. 8b): "Darum ward er ihr Heiland in aller ihrer Not. Nicht ein Engel und nicht ein Bote. sondern sein Angesicht half ihnen, weil er sie liebte und Erbarmen mit ihnen hatte..." (Luther). Die Vulgata liest: "In allem ihrem Leiden wurde er nicht bitter, und der Engel seines Angesichts befreite sie..." Die neue tschechische Übersetzung hält sich an die alte Kralitzer und damit an die zweite Möglichkeit des hebräischen Wortlauts (sie liest anstelle der Verneinung das Personalpronomen wie übrigens auch die alte unrevidierte Lutherübersetzung) und übersetzt: "Mit allen ihren Drangsalen wurde er bedrängt..." Mit Sicherheit stieg jedoch der Knecht Gottes nach Jes 53 in alles menschliche Leid herab. Dazu kommen wir noch.
2. Der lateinische Ausdruck Kondeszendenz, ursprünglich condescendentia, ist in gleicher Weise gebildet. 'Con' in der Vorsilbe ist dasselbe wie die Präppsition cum = 'mit, zusammen'; de = 'von' oder auch im weiteren Sinn 'hinab'. Der Rest des Wortes ist eine Ableitung von dem Verb scendere = 'steigen'. Im Lateinischen gibt es jedoch das sehr geläufige Verb descendere = 'herabsteigen' und zwar im weiteren Sinn. Daraus ist der lateinische Ausdruck condescendentia entstanden.
Die großen Wörterbücher lehren uns (siehe H. G. Liddel - R. Scott, A Greek-EngIish Lexicon, ed. H. S. Jones etc., Oxford 1940; Nachdruck 1963; Supplement 1963), daß in der griechischen Literatur, die uns erhalten und aufgearbeitet ist, zuerst der Philosoph Philodemos aus Gadar diesen Ausdruck benutzte, der ungefähr von 110-40 v.u.Z. gelebt hat. Er war ein Anhänger der Epikuräer und gründete nach 80 v.u.Z. eine Schule in Neapel (siehe Philodemus Philosophus, Volumina rhetorica, ed. S. Sudhaus, 2 Bd., Leipzig 1892-95; Zitat aus Bd. 2, S. 25).
Älter und geläufiger in der griechischen Literatur war jedoch das Verb Synkatabainein = 'Zusammenherabsteigen'. Wir finden es schon bei den großen griechischen Dramatikern wie Aischylos und Euripides, oder bei den Philosophen z.B. Aristoteles, und auch bei den Historikern. z.B. bei Thukydides, Polybios und Diodor, dem Sizilianer (siehe K. Duchatelez, La condescendence divine et l'histoire de salut, Nouvelle revue theologique, Louvain 95, 1973, 593-621, besonders die Seiten 594ff; dort auch eine ausführliche Bibliographie).
Schließlich findet sich der Ausdruck interessanterweise in einem Werk des Kaisers Julian Apostata (siehe Duchatelez, S. 598. Anm. 23). Er schreibt, daß in Jamblichs Theologie Gott durch nichts zu uns hingezogen wird, sich uns auch nicht zuwendet, sondern abgesondert und erhöht bleibt und dem, der an ihm teilhat, sich gibt, ohne daß er selbst aus sich herausgeht, ohne daß er sich verkleinert und ohne daß er Diener derer wird, die ihn annehmen. Das ist eine deutliche Polemik gegen das Christentum, die uns indirekt darin Einblick gewährt, worum es den christlichen Theologen damals ging, die die Kondeszendenz Gottes vertraten. Literarisch ist Julians Ausspruch ein Nachklang der Plotinschen Eneaden V, VIII,1.
2. In der Bibel:
Den Ausdruck synkatabasis finden wir weder im griechischen Alten Testament, also in der Septuaginta, noch im griechischen Neuen Testament. Allerdings ist das Verb in beiden Testamenten belegt. Im Alten Tesament kommt es dreimal vor: Ps 49(48),18 - dort steht das hebräische jarad als Äquivalent; dann in der Weisheit Salomos 10,13 und Dan 4,39. Die Stelle aus der Weisheit ist besonders interessant: Das dortige Verb besagt, daß Gottes Herrlichkeit mit Josef in die Grube hinabstieg, in der ihn die Brüder gefangenhielten, bevor sie ihn nach Ägypten verkauften. Im Neuen Testament finden wir dieses Verb nur einmal, nämlich in Apg 25,5. Dort sagt der römische Statthalter Festus zu den Juden: "Es mögen die von euch, die können, zusammen hinabfahren (d.h. nach Cäsarea) und dort Paulus verklagen..." Wir können zusammenfassen: Die Bibel gebraucht diesen Ausdruck noch nicht, sei es als Nomen oder Verb, um Gottes Herabneigung zum Menschen oder Christi Herabsteigen in das menschliche Elend zu beschreiben. Dazu genügen ihr allgemeinere und geläufigere Ausdrücke, besonders das kürzere Verb katabainein = herabsteigen, das in der ganzen Bibel ziemlich oft vorkommt und überwiegend dem hebräischen Verb jarad entspricht, das dieselbe Bedeutung hat. Darüber haben wir schon im vorhergehenden Paragraphen gesprochen.
3. In der jüdischen Literatur:
In ähnlichem Sinn wie die späteren christlichen Schriftsteller benutzt der bedeutende jüdische Schriftsteller der neutestamentlichen Zeit, Philo von Alexandrien, das untersuchte Verb. Er erklärt, wie der barmherzige Gott zu den Menschen herabsteigt und ihnen hilft (De somniis 1,147 und De Abrahamo 105). Es ist bezeichnend, daß Philo in einer Zeit schrieb, die wir vorchristlich nennen können, auch wenn er wahrscheinlich ein etwas älterer Zeitgenosse Jesu war. Aber offensichtlich wußte er nichts von ihm und seiner Bewegung. Die Literatur aus späterer Zeit, besonders der Talmud, meidet den Gedanken der Kondeszendenz, zumindest im Wortlaut, offenbar, weil sie ihn für spezifisch christlich hält.
4. Bei den griechischen Kirchenvätern:
Bei findet sich recht häufig der Gedanke von Gottes Herabsteigen, genauer gesagt: vom Herabsteigen des alttestamentlichen Gottes. Aber erst Irenäus gebrauchte Ende des 2. Jahrhunderts u.Z. das Verb synkatabainein. Er verwendete es in seiner Schrift gegen die Ketzer (Contra hereses I,15,3, Patrologia graeca 7,621 A) in Polemik gegen die Gnostiker, die meinten, daß Gottes Macht erst bei der Taufe über Jesus kam, im Augenblick seines Eintauchens ins Wasser. Dieser Ansicht hält Irenäus die Botschaft der Evangelien von der wunderbaren Herkunft Jesu entgegen.
Einen bedeutenden Platz hatte der Gedanke vom Herabsteigen Gottes in der alexandrinischen Tradition inne. Schon Clemens von Alexandrien (ca. 150-211) beschäftigte sich mit diesem Gedanken, aber erst sein berühmter Schüler Origenes (+254) benutzte den Ausdruck synkatabasis, mit dem er sowohl jedes göttliche Eingreifen in der Geschichte als auch besonders die Fleischwerdung bzw. die Inkarnation des ewigen Wortes Gottes bezeichnete.
Wir können uns heute kaum noch vorstellen, wie anstößig das für den klang, der in der alten Welt auf der selbstverständlichen Vorstellung von der unveränderlichen Erhabenheit der Götter beharrte. Die Botschaft von Gottes Herabsteigen war ihnen unbegreiflich. um so mehr als Origenes behauptete, daß Gott nicht nur einmal in Christus herabgestiegen sei, sondern darüberhinaus neu herabsteigt und zu uns kommt. Wie Jesus den Menschen entgegenkam, so tritt Gott heraus, unserer Begriffsstutzigkeit entgegen, und geht ein in menschliche Worte und menschliche Rede, um sich uns verständlich zu machen. Diese Ausweitung des Gedankens der Kondeszendenz auf die Sprache ist sehr beachtenswert. Wir kommen später noch darauf zurück.
Ein weiterer bedeutender Theologe des Altertums, Athanasios (295-373) behauptet die göttliche Kondeszendenz in Christus in Abwehr gegen die Abtrennung Christi von Gott, zu der es in der Lehre seines Gegners Arius kommt. Er benutzt dazu das Bild von der Weisheit aus dem Alten Testament (Spr 3,22.30).
Eine sehr bedeutende Rolle spielt die Kondeszendenz in der Theologie des Chrysostomos (+347) (siehe Duchatelez, S. 601-604; ebenfalls H. Pinard, Les infiltrations paiennes dans l'ancienne loi d'apres les peres de l'Eglise. La these de la condescendance. Recherches de science religieuse Vol. 9, Paris 1919, S. 197-221; ebenfalls Pietro Moro, La "condiscendenza" divina in s. Giovanni Crisostomo, Euntes docete, Vol. 11, Roma 1958, S. 109-123). Chrysostomos muß als Vater der Theorie von der Kondeszendenz angesehen werden. Er wiederholt nämlich wieder und wieder, daß sich Gott zum Menschen herabneigt, zu seiner Niedrigkeit, auch zu seiner Sprache und der Art seines Denkens. Eine Form der Kondeszendenz Gottes sind auch die Anthropomorphismen. Nach Hebr 4,15 wurde Christus uns in allem gleich außer in der Sünde. Ebenso läßt sich von der Schrift sagen, daß das Wort Gottes in ihr in allem unserem Reden ähnlich wurde außer im Irrtum, der im intellektuellen Bereich der Sünde entspricht. Dieses Denken wurde auch von der bekannten und gewichtigen Encyklika Divino afflante spiritu übernommen, die den römisch-katholischen Theologen das Studium der biblischen Texte in den Ursprachen ermöglichte und ein bedeutendes Vorspiel des II. Vatikanischen Konzils war. - Neben der Kondeszendenz in die menschliche Sprache steht laut Chrysostomos selbstverständlich die Kondeszendenz im eigentlichen Sinn, die Inkarnation in Christus. Und weil er die Sakramente, besonders die Eucharistie, als Verlängerung der Inkarnation bzw. der Menschwerdung Gottes versteht, spricht er auch noch von der Kondeszendenz Gottes in den Sakramenten.
Theodoret aus Kyrrhos in Syrien (wo er Bischof war - ca. 390-457) knüpft später an den Gedanken des Chrysostomos an. Er spiritualisiert den Begriff der Kondeszendenz und verwendet ihn bei seiner Auslegung des Hohenliedes. Der himmlische Bräutigam offenbart sich darin der Braut, der Kirche und also uns dergestalt, daß er unsere Unvollkommenheit und Schwachheit in Erwägung zieht.
Eine Reihe kirchlicher Autoren lassen wir hier aus, aber das Wesentliche wurde gesagt: Die Lehre vom Herabsteigen Gottes oder der Kondeszendenz hat einen festen Platz gerade bei den bedeutenden griechischen Kirchenvätern.
5. Theologen der abendländischen Kirche:
Die lateinischen Kirchenväter benutzen zwar den Ausdruck Kondeszendenz (condescensio), durchdenken ihn aber nicht neu. Sie knüpfen an die griechischen Kirchenväter an, und so kann man ihre Ansichten in drei Hauptpunkte zusammenfassen: 1. Gott steigt herab, um zu helfen. 2. Gott steigt herab, indem er sich sprechend der Schwachheit der Hörer anpaßt und schließlich 3. die Menschwerdung oder Inkarnation Gottes in Jesus Christus. Den Ausdruck selbst finden wir bei Ambrosius, Kassian, Rustik, bei Gregor dem Großen und Isidor von Sevilla (siehe Duchatelez, S. 619).
Von den bekannten Theologen des Mittelalters lohnt sich zu erwähnen. daß Thomas von Aquin den Begriff Kondeszendenz bei der Auslegung von Ps 31,3 und Tit 3,4 gebraucht. Beide Stellen handeln davon, daß Gottes Güte der menschlichen Schwachheit entgegenkommt: In Ps 31,3 neigt Gott uns sein Ohr zu, in Tit 3,4 offenbart er sich der unwürdigen Menschheit aus Liebe. Bonaventura gebraucht den Ausdruck Kondeszendenz in einer breiteren Auffassung. Er knüpft an Chrysostomos an und gibt dem Begriff Kondeszendenz einen ethischen Akzent: Wie sich Christus uns Unvollkommenen zuneigte, so sollen wir uns dem unvollkommenen Nächsten zu wenden, sogar unseren Feinden.
Im späteren Mittelalter und in der Neuzeit blieb der Ausdruck selbst zwar im theologischen Bewußtsein, aber eher am Rande. Mit Nachdruck erklingt er erst im Gespräch der französischen Theologen des 17. Jahrhunderts. Franz von Sales faßt Kondeszendenz als Anpassung an die Schwachheit der anderen auf, also im weiteren Sinn, ähnlich wie Bourdelaux, während der berühmte Bausset zur spezifischen Bedeutung von Kondeszendenz als Inkarnation zurückkehrt.
6. Die Reformation und die Neuzeit:
Für Luther ist der Gedanke von Gottes Herabneigung zu uns sehr wichtig. Er zeigt umfassend, wie Christus Armut und Elend mit uns teilt und wir mit ihm seinen Ruhmm, aber er drückt es meist mit anderen Worten aus. Ähnlich ist es auch bei Calvin und seinen Schülern.[5]
In diesem kurzen Überblick über die Geschichte der Kondeszendenz bleibt noch zu erwähnen, daß dieser Ausdruck sogar in der byzantischen Liturgie vorkommt. Im Osterlob, wo Christi FIeischwerdung, Tod und Auferstehung gefeiert wird, heißt es: "Wir feiern deine göttliche Kondeszendenz (Synkatabasis), Christus, den wir verherrlichen. Du bist geboren von der Jungfrau und bist untrennbar vom Vater (ein Nachklang dvon Chalkedon). Du hast gelitten wie ein Mensch und bist freiwillig ans Kreuz herabgestiegen. Auferstanden aus dem Grab, bist du aufgefahren aus ihm wie aus der Brautkammer, um die Welt zu retten, Ruhm sei dir, Herr!"
In der zeitgenössischen Theologie kommt der Ausdruck Kondeszendenz ziemlich selten vor. In der großen "Kirchlichen Dogmatik" Karl Barths taucht er zwar einigemale auf, aber er wird meist durch die deutschen Worte Herablassung, Erniedrigung oder Herabsteigen ersetzt.[6]
Als Beispiele für seine Auffassung von Kondeszendenz führen wir zwei Zitate an: "So groß ist seine Gnade, so weit geht seine Kondescendenz, so ernst ist es ihm mit der Solidarität, in die er sich in seinem Sohn mit uns Menschen begeben hat..."[7]. Das zweite Zitat ist ein Beispiel dafür, wie Barth das Wort Kondescendenz mit Worten ähnlichen Inhalts umschreibt: "So tief wollte er von seinem Thron herabsteigen, so hoch zur Rechten seines Thrones wollte er das Geschöpf, den Menschen, erheben..."[8]
Eine sehr wichtige Sicht der Kondeszendenz legte Prof. Martin Stöhr aus Siegen vor: "Die Idee der Kondescendenz ist nicht spezifisch christlich. Die jüdische Tradition kennt z.B. mit der Erinnerung an die Schechina eine besondere Gegenwart Gottes. Gott steigt zu den Menschen herab. Er ist unmanipulierbar im Tempel gegenwärtig, im Volk (d.h. in Israel), im Gesetz, in seinem Geist, in den drei Männern bei Abraham, und seine Gegenwart wird auf verschiedene Weise wirklich."[9]
Den Gedanken des leidenden oder ohnmächtigen Gottes in den Prüfungen hat Hans Jonas beschrieben, weil er durchlebt wurde: "Gott in der Immanenz ist ein den Juden vertrauter Gedanke ... Niemals jedoch geht es um die Identifikation des Menschen mit Gott ... Die marcionitische Lösung, die in Franz Alts Auffassung lebendig wird, ist kein Ausgangspunkt für die Lösung der Beziehung zwischen Juden und Christen: nämlich das Reden von zwei Göttern, dem Gott der Rache im Alten Testament und dem Gott der Liebe im Neuen"[10] Stöhr geht weiter: "Christologie ist etwas, was nach der Auffassung des Neuen Testaments, seiner Autoren und auch der Auffassung Jesu selbst eigentlich nicht sein sollte. Die Erwartung der nahen Ankunft des Königreichs Gottes in der Sendung Jesu, dessen Vorbote er ist, auch in der Sendung seiner Jünger, richtet sich auf die messianische Wirklichkeit. Die christologischen Bekenntnisse im Neuen Testament müssen also in der Kirchengeschichte und Theologie mehr tragen als sie tragen können. Heute müssen wir auf die verzögerte Ankunft des Reiches Gottes eine Antwort geben, die mehr ist als seine Verinnerlichung oder die Verlegung ins Jenseits. Das sind Ansichten, die traditionell und unterschiedlich zur Beschädigung des Christentums und des Judentums beigetragen haben."[11] Soweit Stöhr.
Das ist ein scharfes Wort. Die Sache wird in etwa klar, wenn wir uns bewußt machen, daß Stöhr hier zweifellos mit Christologie das meint, was wir in dieser Arbeit schon früher unter der Überschrift "Jesulogie" abgelehnt haben. Davon ist wirklich Abstand zu nehmen. Christologie im wahren Sinn des Wortes betrifft das, was Gott durch Jesus getan hat und tut, keineswegs die menschliche Dimension und Größe des Rabbi Jesus von Nazareth. Ob Gott durch Jesus gehandelt hat und noch handelt, damit steht und fällt das ganze - Christentum.
Aber die Frage nach dem Wie seines Handelns bleibt. Und da ruft Stöhr nach einer Antwort, die von Jesu Botschaft, nicht von seiner Person abgeleitet werden soll. Damit löst er sich in gewisser Weise vom Apostel Paulus. Versuchen wir jedoch, uns Stöhr und seinen Versuch so gut wie möglich klarzumachen. Vielleicht kann man sagen, das wesentliche Zeichen der Sendung Jesu ist, daß das Reich Gottes kommt und von innen nach außen wächst. Es kann nicht von außen nach innen eingeführt und durchgesetzt werden, also durch Macht und Gewalt. Auch das hören wir schon im Alten Testament, aber nur als eine von vielen Möglichkeiten, keineswegs als einzige Möglichkeit. Das Neue Testament bringt unter anderem also eine Auswahl aus den vielen Möglichkeiten, die das Alte enthält. Jetzt, nach dem Kommen des Messias, sind die übrigen schon verschlossen, hören auf, Möglichkeiten zu sein, sind allerlei unmögliche Möglichkeiten - das ist eine Wendung Barths. Auf diese Weise kommt im Neuen Testament zu Wort, was definitiv und endgültig ist, was die "letzte Zeit" kennzeichnet - vgl. Hebr 1,1f.
Ein kurzes, aber sehr deutliches Wort über die Kondeszendenz hat auch Jan Miliè Lochman gesagt, ein tschechischer Theologe, der jahrelang in Basel Barths Lehrstuhl innehatte. Im Sammelband zum Geburtstag von Karl Jaspers polemisiert Lochman gegen Jaspers, dessen Gottesverständnis prinzipiell von der Transzendenz ausgeht. Darin fehlt jedoch ganz und gar die sich dem Menschen zuneigende Bewegung. Lochman schreibt dort: "die Ascendence (also der Aufstieg des Menschen), nicht die Kondeszendenz Gottes entspricht dem Geheimnis der Transzendenz"[12]. Die Bemerkung Lochmans kann als Schlußfolgerung des Absatzes dienen: Gottes Herabsteigen - die Kondeszendenz - ist das Gegenteil des menschlichen Aufstrebens.
1. An erster Stelle muß wahrscheinlich Gottes Kondeszendenz im Bereich menschlicher Sprache erwähnt werden. Gott neigt sich herab in die menschlichen Worte und Vorstellungen, um überhaupt mit dem Menschen sprechen zu können. Hierher gehören z.B. die Anthropomorphismen. Das wurde schon gesagt und ist selbstverständlich. Aber ich möchte hier auch das Wort 'Gott' einordnen. Wenn wir voraussetzen, daß die ersten drei Kapitel der Genesis historische Begebenheiten beschreiben und daß die menschliche Sprache so entstand, daß Gott Adam im Paradies sprechen lehrte, dann ist allerdings auch das Wort 'Gott' nicht menschlich, es sei denn Gottes Schöpfung und deshalb auch eine direkte Gottesoffenbarung. Wenn das aber nicht so ist, dann ist das Wort 'Gott' eine menschliche Bezeichnung für das, was über den Menschen hinausgeht, ja ihn beherrscht. Ich bin der Meinung, daß menschliche Rede mit unserem Menschsein zusammenhängt und also damit, was die Bibel Schöpfung des Menschen nennt. Aber komplizierter, nicht unmittelbar, daß sie vielmehr eine Widerspiegelung und ein Ausdruck der neuen Beziehungen ist, in die der Mensch geraten ist, als er Mensch wurde. Dann ist das Wort 'Gott' Ausdruck für die menschliche Vorstellung von dem, der über ihm ist. Und der Wahre, Lebendige und Souveräne, den wir anrufen, hat uns erlaubt, ihn Gott zu nennen. Er stieg herab in diesen Begriff und diese Bezeichnung, auch wenn er ihn dadurch zugleich tief umformte, so daß wir, besonders über der Bibel, ständig neu fragen müssen: Wer ist der, den wir Gott nennen? Wie unterscheidet er sich von denen, die die anderen 'Götter' nennen, seien es die Heiden der Antike oder die Leute in unserer Umgebung, die entweder die Existenz von Göttern nach ihren Vorstellungen zugestehen oder ablehnen, aber niemals die Existenz dessen, der diese Vorstellungen überschreitet und infragestellt? Und doch besteht das Wesen christlicher Theologie darin, sich seine Vorstellungen durch Gott selbst stets neu infragestellen zu lassen und so der Wahrheit wie ein Pilger nachzugehen.
2. An zweiter Stelle ist wahrscheinlich daran zu erinnern, daß Gott sich schon von alters her zu seinem Volk herabgeneigt hat und es bis heute auf ganz bestimmte Weise tut. Es läßt sich mit einem Wort sagen: befreiend. So, daß er uns dadurch hilft, daß er uns aus der Macht des Bösen herausführt, der Sünde und des Todes, in eine neue Freiheit von diesem allem und uns damit auf einen Weg stellt, der zu ihm führt und an dem wir Anteil haben dürfen und sollen mit denen, die das brauchen und erkennen. Gott mit uns, Immanuel, er ist nahe, ja näher, als wir uns vorstellen können und als wir zu hoffen wagen.
3. Der eigentliche Kern und das Ziel der göttlichen Kondeszendenz ist allerdings Gottes Inkarnation in Jesus Christus. In ihm ist Gott am deutlichsten und tiefsten in unser Elend herabgestiegen, in unsere Ohnmacht, in unseren Tod. in alles, was uns hier belastet und einengt, zermürbt und kaputtmacht. Er erniedrigte sich in den Staub des Stalles, er willigte ein, daß man an ihm einen Justizmord beging, er ließ sich auf grausame Art foltern und hinrichten, wie es nur für Sklaven oder ähnlich rechtlose Bewohner der römischen Provinzen bestimmt war. Es ist nichts im bitteren Schicksal des Menschen, dem freilich selbst verschuldeten, was er nicht erlitten hätte. Niemals werden wir völlig verstehen, was das bedeutet, daß der Höchste zum Niedrigsten wurde. Und das ist Kondeszendenz - nicht nur Deszendenz, Gottes Herabsteigen ins Elend, sondern Kondeszendenz, ein Herabsteigen zusammen mit uns und in unser Leid und in unseren Tod. Die Götter bleiben im Himmel. wohin der Mensch ihnen nachklettert, aufsteigt und schwebt wie auf Adlersflügeln, wie der mesopotamische Held Etena, oder auf den Flügeln eigener Verdienste und Erlebnisse. Aber unser Gott ist zu uns herabgestiegen und ist mit uns von jetzt an in allem und bleibt uns nahe (vgl. Dtn 30,11-16; Röm 10,6-9).
Ein kleines Beispiel dazu aus dem Alten Testament. Israel, schon aus Ägypten befreit, irrt noch irgendwo in der Wüste herum, aber Gott sagt zu ihm: "Ich habe euch das verheißene Land gegeben." Er sagt nicht: "Irgendwann einmal werde ich es euch geben". Er gebraucht nicht die Zukunft, sondern die Form, die wir faktual genannt haben, damit deutlich wird, daß es für Gott schon eine vollendete Tatsache ist. Israel freilich muß das Land erst noch einnehmen und zwar immer neu mit dem Herzen einnehmen, dort Wurzeln schlagen als ständige Aufgabe, und das ist aktual.
Ähnlich verhält es sich mit Gottes Herabneigen oder Herabsteigen. Gott hat sich entschlossen, sich zu den Menschen, zu seinem Volk, zur Kirche herabzuneigen und durch ihr Zeugnis und ihre Sendung zur ganzen Welt. Das ist ein Faktum, an dem auch die nichts ändern können, die das lautstark bestreiten. Es steht schon in der Bibel, daß Menschen, die davon nichts wissen, darüber lästern (Judas 10). So sollte es uns weder überraschen noch beunruhigen. Aber wenn wir Menschen darauf schauen, was Gott für uns in seiner großen Liebe ein für allemal getan hat. sehen wir seine Herabneigung als ein ständig wiederholtes Geschehen. So neigte er sich zu Abraham herab und zu Jakob, zu Mose und Josua und vielen anderen. Und so auch zu uns viele Male in unserem Leben. Und wir zweifeln daran, daß er sich uns noch einmal zuneigt, daß er aufs neue zu uns kommt in seinem Wort und seinem Geist und uns zeigt, wie nahe er uns ist. Man könnte es auch so sagen: Gottes Herabneigung, die ein für allemal das größte und wichtigste Ereignis der ganzen Weltgeschichte ist und also faktual, wird uns im Glauben, in Wort und Geist Gottes aktuell, aktual.
Nun können wir begreifen, daß auch nur eine einzige Zuwendung Gottes, ein einziges Herabsteigen aus verschiedenen Richtungen zu betrachten und in verschiedenen Gestalten zu entdecken ist. Die eine - wir könnten sagen - erste Gestalt ist, daß Gott keine Bedenken hatte, unser Gott zu sein und deinen Zeugen erlaubte, über ihn mit menschlichen Worten zu reden, ihn mit menschlichen Bildern zu erfassen zu versuchen, sein Wirken zu beschreiben mit Worten, mit denen man von menschlichem Tun spricht usw. Sie taten es nicht aus eigenem Willen. Gott selbst wollte und will in Verbindung mit den Messchen stehen. Deshalb steigt er herab aus seiner göttlichen Unerkennbarkeit und Unnahbarkeit in menschliche Erkennbarkeit. Und dieses Herabsteigen ist ein Schritt auf dem Weg zur Menschwerdung in Jesus Christus.
Die Bibel spricht oft über Gott wie über einen Menschen. Sie erwähnt Gottes Augen oder Ohren, Gottes Mund oder seine Arme. Sie spricht davon, daß Gott sieht und hört, ja daß er Mitleid hat und seine früheren Entscheidungen bereut. Solch bildliches Reden von Gott nennt man Anthropomorphismus. Es ist ein Wort griechischen Ursprungs: Anthropos heißt Mensch, morphé heißt Gestalt. Anthropomorphismus ist also, wo von Gott wie von einem Menschen gesprochen wird. Das bedeutet jedoch nicht, daß der Mensch sich Gott nach seiner eigenen Gestalt, zu seiner Gestalt macht. Diese Vorstellung ist im Ausdruck Anthropomorphismus keineswegs zwingend enthalten, auch wenn es oft in ihn hineingelegt wird. Wir distanzieren uns hier entschieden davon und verstehen den biblischen Anthropomorphismus gerade umgekehrt als einen Beleg für Gottes Freundlichkeit, für seine Bereitschaft, uns von ihm so verständlich wie möglich sprechen zu lassen. Deshalb wollen wir uns in einem weiteren Teil dieser Arbeit ausführlicher mit ihnen befassen.
Die andere Möglichkeit, über Gottes Herabsteigen zu sprechen, finden wir in verschiedenen biblischen Geschichten. Es sind so viele, daß wir eigentlich die ganze Bibel durchgehen müßten, wenn wir ein erschöpfendes Verzeichnis vorlegen wollten. Und so widmen wir uns in einem späteren Abschnitt (§ 25) gezielt nur den Geschichten und Berichten, die irgendwie typisch sind und eine Tätigkeit beschreiben, die wir zusammenfassend als Aufgabe oder Amt bezeichnen könnten. Wir konzentrieren uns deshalb hauptsächlich auf die Lehre vom dreifachen Amt Christi, die im Alten Testament gut verankert ist und versuchen auch, sie abzuwandeln.
1. Ohr (ozen) kommt oft im Zusammenhang mit Gott vor. Gott neigt sein Ohr, wenn er Gebete erhört (2.Kön 19,16; Jes 37,17; Ps 17,6; 116,2; Dan 9,18). An anderer Stelle stopft er sich die Ohren zu, bzw. verbirgt sein Ohr (z.B. Klgld 3,8.56), oder es heißt, er sei nicht schwerhörig geworden (Jes 59,1).
2. Vom Rücken (achor) ist nur einmal in Ex 33,23 die Rede. Gott sagt Mose, er werde ihm nicht sein Angesicht zeigen, sondern nur seinen Rücken (Luther übersetzt: du darfst hinter mir hersehen). Diese Stelle bereitet vielen Lesern Schwierigkeiten. Diese lösen sich jedoch auf, wenn wir uns bewußt machen, daß es dort der Rücken dessen gemeint ist, der vorbeigeht, ohne zu strafen (Ex 34,6). Das Vorübergehen des Würgeengels (hebräisch: Passa, pesach) in der Nacht vor dem Auszug aus Ägypten, steht im Mittelpunkt des jüdischen Passafestes und fester Bestandteil der Exodustradition. So ist auch Gottes Rücken eigentlich eine Chiffre für seine Barmherzigkeit.
3. Das Wort Nase (af), bzw. Nasenlöcher (appajim) tritt häufig in zwei Metaphern auf: Die Nase "glühend machen" bedeutet in Zorn ausbrechen. Luther übersetzt an diesen Stellen direkt mit Zorn - "sein Zorn entbrannte". Es scheint, daß die ursprüngliche Bedeutung des Wortes in der Mehrzahl der Bibelstellen schon verblichen ist und daß diese Wendung nur noch in übertragener Bedeutung gebraucht wird. Von Gottes Zornigwerden spricht die Bibel verhältnismäßig oft, allein in den Mosebüchern achtzehnmal: Ex 4,14; 22,23; 32,10f; Num 11,10.33; 12,9; 22,22; 25,3f; 32,10.13; Dtn 6,15; 7,4; 11,17; 29,19.26; 31,17. Eine weitere Wendung lautet wörtlich etwa 'Langandauern der Nasenlöcher' (erek appajim) und meint 'einen langen Atem' oder allgemeiner 'Geduld', 'Ausdauer' haben. Von Gott wird das neunmal gesagt: Ex 34,5; Num 14,18; Joel 2,13; Jona 4,2; Nah 1,3; Ps 36,15; 103,8; 145,3; Neh 9,17). Außer diesen Wendungen gibt es aber noch andere Stellen, wo dasselbe hebräische Wort (af) auf Gott angewandt offenbar Nase bedeutet, wenn man z.B. Weihrauch vor seine Nase bringt (Dtn 33,10). Der Atem oder Odem, der von Gottes Nase ausgeht (Luther: sein Schnauben), türmt die Wasser auf (Ex 15,3) und deckt die Tiefen der Erde auf (Ps 18,16).
4. Der Finger (ecba') Gottes wird nur viermal erwähnt: Der Psalmist bewundert die Himmel, das Werk der Finger Gottes (Ps 3,4), und Mose bekam mit dem Finger Gottes beschriebene Tafeln (Ex 31,10; Dtn 9,10). Über Moses Wunder sagen die Diener des Pharaos: "Das ist Gottes Finger" (Ex 8,13). Diese Redensart hat sich bis heute erhalten, man gebraucht sie wie damals, wenn man sagen will, daß etwas nicht Menschenwerk, sondern Gottes eigenes Werk ist. Aber die Ägypter dachten an den Gott Israels.
5. Vom Arm (zeroa') des Herrn steht im Alten Testament verhältnismäßig oft geschrieben. Es ist ein geläufiges Bild für die sieghafte Macht Gottes, wenn er seine Feinde überwindet. Im Hintergrund steht offensichtlich das Bild des Kriegers mit dem ausgestreckten Arm, in dem er die Waffe hält. Mit solchem ausgestreckten Arm befreit Gott sein Volk aus Ägypten und überwältigt er seine Gegner (Ex 5,6; Dtn 4,34; 5,15; 7,19; 11,2 usw.).
6. Schoß (cheq) kommt nur einmal, in Ps 74,11 vor. Der Psalmist klagt dort darüber, daß Gott seine Rechte in seinem Schoß verbirgt. daß er also untätig bleibt. Auch wir sagen noch heute, daß jemand seine Hände in den Schoß legt, wenn wir den Zustand der Untätigkeit beschreiben wollen.
7. Die Hand (jad) ist neben dem Gesicht der häufigste Anthromorphismus der Bibel. Es geht selbstverständlich darum auszudrücken, daß Gott handelt. Es gibt eine ganze Reihe von Redewendungen, die leicht über die Konkordanz zu finden sind. Denken wir nur an die festgeprägte Formel: Gott führte Israel aus Ägypten mit starker Hand und ausgerecktem Arm (Dtn 5,15; 7,19; 9,29; 11,2; 26,8 usw). Seinen Auserwählten bedeckt Gott mit dem Schatten seiner Hand (Jes 49,2; 51,16). Die gute Hand Gottes war über Esra (Esra 7,9) und über Nehemia (Neh 2,8.18). Wenn Gott seine Hand auftut, ist die ganze Schöpfung mit Gutem gesättigt (Ps 104,23; 145,16).
8. Die Rechte (jamin) ist ebenfalls ein sehr häufiger Ausdruck. In der Bedeutung ähnelt er der Hand und dem Arm. Mit seiner Rechten überwindet Gott seine Feinde (Ex 15,6.12). In seiner Rechten ist Heil (Ps 20,7), sie ist voll Gerechtigkeit (Ps 48,11), sie kann sich verändern (Ps 77,11). Gott schwört bei seiner Rechten (Jes 62,8), und aus seiner Rechten leuchtet das Feuer des Gesetzes (Dtn 33,2).
9. Handfläche (kaf) - auch die Bedeutung Fußsohle ist möglich - kommt nur einmal in Jes 49,16 vor: Gott hat sich Israel in seine Hände eingeritzt, um es nicht zu vergessen (vgl. Jes 49,15). Wir würden heute vielleicht sagen sich ins Gedächtnis eingraben.
10. Vom Herzen (leb) Gottes ist nur einige Male die Rede: Gott hat Sorge in seinem Herzen (Gen 6,6), er spricht zu seinem Herzen (Gen 3,21), er will sich einen Priester nach seinem Herzen erwecken (1.Sam 2,35). Gottes Herz ist über Ephraim buchstäblich umgekippt, dh. er hat seine Meinung geändert und ist bereit, ihm zu vergeben (Hos 11,5). Und in dem Haus, das Salomo gebaut hat, soll Gottes Herz beständig wohnen (1.Kön 9,3). Wir wissen, daß das Herz im Altertum eher Ausgangspunkt des Willens als Sitz des Gefühls war. Das ist auch an den Stellen erkennbar, die von Gottes Herzen reden.
11. Die Zunge (laschon) kann auch die Feuerzunge oder Flamme bezeichnen. Bei einer Reihe von Stellen ist deshalb nicht deutlich, ob es um die Zunge Gottes geht oder eher um Flammen des göttlichen Feuers (siehe Apg 2,3), darüber entscheidet oft nur die Auslegung. So verhält es sich auch bei der wohl ausdrucksstärksten Stelle Jes 30,27: "Seine Lippen sind voll Grimm und seine Zunge wie ein verzehrendes Feuer". Das ist eine interessante Stelle. Die Parallelisierung von Lippen und der Zunge zeigt, daß im Hintergrund die konkrete Vorstellung von einer Zunge steht, aber die wird wieder mit Feuer verglichen. Aus solchen Stellen sind offensichtlich einige unorthodoxe Vorstellungen entstanden, etwa daß Gott wie ein feuriger Riese aussähe.
12. Nur Jes 63,15 spricht von Gottes Eingeweiden (me'im), wörtlich: "Wo ist die Bewegung deines Inneren?" Es geht hier um Gottes Mitleid, das bei Menschen oft mit einer "Bewegung der Eingeweide" in Zusammenhang gebracht wird (Hhld 5,4; Jer 31,20).
13. Das Auge (`ajin) ist neben Gesicht und Hand der häufigste Anthropomorphismus. Gott sieht alles, sein Auge prüft die Menschenkinder (Ps 11.4). Beim Auge ist besonders klar, wie das menschliche Organ als Chiffre für eine Tätigkeit dient.
14. Augenlider oder Wimpern (`af `afajim). Es handelt sich um einen seltenen Ausdruck, über dessen genaue Bedeutung man sich nicht einig ist. Das Wort ist von dem Verb 'fliegen' oder auch 'schwingen' abgeleitet, so daß es eigentlich um ein 'Schwingen' oder 'Blinzeln' geht. Nur einmal wird von Gottes Augenlidern gesprochen und zwar in Parallele zu seinen Augen (Ps 11,4). Die Augenlider sind das Werkzeug zur 'Prüfung der Menschenkinder'. Im Hintergrund steht das Bild vom Herrscher, der mit seinem durchdringenden Blick auch bei halb geschlossenen Lidern seine Untergebenen durchschaut.
15. Der Nacken (`eref) Gottes wird nur einmal erwähnt. Gott zeigt den Sündern nicht sein Angesicht, sondern seinen Nacken (Jer 18,17). Er wendet sich also von ihnen ab.
16. Bei der in der Bibel recht geläufigen Rede vom Mund (pe) Gottes geht es um das Sprechorgan. Aus einer Reihe feststehender Wendungen wollen wir eine besonders herausgreifen: "Denn des Herrn Mund hat's geredet" (Jes 1,20; 40,5; 53,14; Mi 4,4; Jer 9,11 usw.). Aus seinem Mund kommt Feuer (Ps 18,9 = 2.Sam 22,9). Gott spricht mit Mose von Mund zu Mund (Num 12,8). Es ist merkwürdig, daß der Mund des Herrn niemals im Zusammenhang mit dem Essen vorkommt. Darin hebt sich das Alte Testament deutlich von der gängigen Vorstellung in den altorientalischen Mythologien ab, nach der scih Götter vom Opfer ernähren.
17. Das Angesicht (panim) ist der häufigste aller biblischen Anthropomorphismen. Das Wort ist gewöhnlich die Umschreibung von Gottes Gegenwart. Wollten wir alle Stellen, die vom Angesicht Gottes sprechen, durchgehen und sichten, so bekämen wir als Ergebnis eine umfassende Theologie der Offenbarung im Alten Testament. Als Beispiele führen wir nur einige bekannte Stellen an. Der Psalmist bittet: "Erhebe über uns dein leuchtendes Angesicht" (Ps 4,7). Im aaronitischen Segen heißt es: "Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten" (Num 6,25). Die Frommen suchen Gottes Angesicht (Ps 27,8) und hoffen darauf, es zu sehen (Ps 17,15). Wenn aber Gott sein Angesicht verbirgt, erschrickt und vergeht alle Kreatur (Ps 104,29).
18. Der Fuß (regel) ist das Organ der Fortbewegung, so daß es nicht verwundert, daß er auch Gott zugeschrieben wird, der kommt und geht und sein Volk begleitet. Der Begriff kommt allerdings nicht so häufig vor wie das Gesicht, ja nicht einmal so oft wie Hand und Auge. Am häufigsten ist der Ausdruck "Fußschemel Gottes", besonders in der Wendung "sich vor dem Schemel seiner Füße neigen" (Jes 66,1; Ps 99,5; 132,7; 1.Chr 28,2). Dahinter steht die Vorstellung von einem König, der auf dem Thron sitzt, die Füße auf einen Schemel legt und vor dem sich bei einer Audienz alle verneigen. Ein anderes Bild, das vom Lehrer und seinem Schüler, die ihm zu Füßen sitzt, steht offensichtlich hinter Dtn 33,3, wo die Heiligen zu Füßen des Herrn sitzen. An allen diesen Stellen ist die urpsrüngliche Bedeutung das Wortes Fuß schon erheblich verblaßt. Einen konkreteren Hintergrund hat Ex 24,10: Als Mose und die 70 Ältesten Gott schauen, ist unter seinen Füßen eine Fläche wie aus Saphir. In die Eschatologie, ja in die Apokalyptik weist Sa 14,4: In der letzten Zeit werden die Füße des Herrn auf dem Ölberg stehen, der sich daraufhin spaltet. Eine weitere visionäre Stelle spricht vom Dunkel unter seinen Füßen (Ps 18,10 = 2.Sam 22,10).
19. Das Innere (rechamim), ursprünglich die Eingeweide, wurde zum spezifischen Ausdruck für den Sitz des Gefühls und bekam schließlich die Bedeutung von Barmherzigkeit. Von Gottes Barmherzigkeit ist zwar in der Bibel oft die Rede, aber dort hat dieser Ausdruck offensichtlich immer schon übertragene Bedeutung, auch in Jes 63,15: "Dein Inneres und deine Barmherzigkeit stellen sich hart gegen mich."
20. Die Lippe (¹afa) Gottes kommt nur an einer einzigen Stelle in Betracht, die schon im Zusammenhang mit der Zunge erwähnt wurde: "seine Lippen sind voll Zorns und seine Zunge wie ein verzehrendes Feuer" (Jes 30,27). Das ist ganz wörtlich übersetzt. Die Lippen sind hier offensichtlich ähnlich wie der Mund Organ des Redens, mit den Gott das Gericht ankündigt. Interessant ist, daß das Hebräische da, wo wir von tschechischer, lateinischer, deutscher Sprache (Zunge) reden, die Bezeichnung 'Lippe' gebraucht. So heißt es in Gen 11,1 wörtlich, daß die ganze Welt einerlei 'Lippe und Worte' hatte.
21. Der Zahn (¹en) kommt auch nur einmal vor und zwar in Hiob 16,9: "er knirscht mich mit seinen Zähnen an". Daß es sich hier eindeutig um eine Zornesäußerung handelt, zeigt der Zusammenhang: "Er haßt mich ... mein Feind funkelt mich mit seinen Auyen an".
Fassen wir das Ergebnis zusammen: Es ist wichtig, daß nirgendwo im Alten Testament von Gottes Leib oder Rumpf, von seinem Fleisch oder Blut yesprochen wird. Alle erwähnten Organe sind immer Umschreibung einer Tätigkeit, die durch sie geschieht. Die Texte wollen also nicht sagen, wie Gott aussieht, daß er Augen, Ohren und Hände hat, sondern daß er sieht, hört und handelt. Das ist nichts Neues, das sagen alle, von Rabbi Saadji (882-942) bis zu Frank Michaeli (1950), auch ich habe schon darüber geschrieben.[13]
1. Die Tätigkeit der Sinne: Hier sind wir dem vorhergehenden Kapitel über die Organe, die Gott zugeordnet werden, ganz nahe. Sachlich geht es um dasselbe. Nur betrachten wir jetzt die Verben. So ißt Gott (Ex 32,10), aber nicht, um sich zu sättigen, sondern um im Zorn - es geht eigentlich um eine Drohung - die Gottlosen zu verschlingen (vgl. die Doppelbedeutung des deutschen Wortes 'vertilgen'). Gott gebiert (Ps 2,7 = zeugt), aber wieder nicht im körperlichen Sinn, sondern er nimmt jemanden als Sohn an und gebiert auf diese Weise bildlich. Gott erwacht (Ps 78,65), aber auch das ist eine bildliche Umschreibung für den Beginn einer Handlung. Gott atmet und bläst, aber wieder nur bei besonderen Gelegenheiten, zB. wenn er dem Menschen das Leben einhaucht (Gen 2,7), wenn er das Feuer seines Gerichts anfacht (Hos 22,21), wenn er wegbläst, was die Sünder sammeln und anhäufen (Hag 1,9), wenn er durch den Wind das Meer zur Seite bläst (Ex 15,10) oder einen trockenen Wind wehen läßt, der die Ernte vernichtet (Jes 40,24). Daß Gott sieht und hört, ist so geläufig, daß wir hier vielleicht auf Zitate verzichten können. Wir kommen hier also zu einem ähnlichen Ergebnis: Wo es um die Betätigung der Sinne geht, liegt der Nachdruck auf dem Ziel, auf der Wirkung der Tätigkeit, nicht auf dem Organ, das sie ausführt. An vielen Stellen wird dann deutlich, daß auch diese Tätigkeit bildlich zu verstehen ist.
2. Gefühle: Gott liebt (Dtn 7,8; 10,15; 1.Kön 10,9 usw.), er ärgert sich (Mi 7,9 ;Jes 30,30), sein Zorn entbrennt (vgl. den Abschnitt über die Nase im vorhergehenden Paragraphen), er hängt an seinem Volk (Dtn 7,8; 10,15), er bereut (Gen 6,6), er rächt sich (1.Sam 24,13; Jes 1,24; 34,8; 61,2 usw.), er lacht (Ps 2,4; 37,13; 59,9), er ist eifersüchtig oder eifert (Ex 20,5; 34,14; Dtn 4,24; Hes 36,5f; Zeph 1,18; 3,8 usw.), er ist zornig (Lev 10,6; Num 16,10; Dtn 1,34; Jos 9,20; 22,18; Jes 34,2; Sach 1,15; 7,12 usw.), er erregt sich (Jes 28,21), er haßt (Dtn 12,31; 16,22; Jes 61,3; Jer 44,4). - Daß Gott sich aufregt, eifersüchtig ist, daß ihn etwas reut, ja daß er auch haßt, gefällt vielen Bibellesern nicht. Aber die ganze Bibel bezeugt, daß Gott uns so nahe ist, seine Beziehung zu uns so unmittelbar, die Kommunikation so intensiv, daß die biblischen Zeugen keine Bedenken hatten, sie mit Worten zu umschreiben, die unsere Vorstellungen von einem edlen, erhabenen, gütig vornehmen Gott durchbrechen. Im Gegenteil, sie zeigen, was der Umgang mit dem Menschen Gott kostet - einmal seine Ruhe, ein andermal seine Erhabenheit über menschlichen Schmutz. In alles begibt er sich hinein, in Zorn und Eifersucht, in Liebe und Reue, um uns zum Guten zu führen und für sich zu haben. Auch all das ist das einzigartige große Herabsteigen Gottes.
3. Bewegungen: Gott geht (Gen 3,8; Dtn 1,33). er steigt herab (siehe § 14), er zieht aus (2.Sam 5,24), er sitzt (Jes 44.22), er fliegt (Ps 18,11), er steigt auf (Gen 17,22; 35,13). er erhebt sich, macht sich auf (Jes 2,19-21; 14,22; 33,10; Ps 3,8; 7,7; 9,20; 10,12; 12,6 usw.); er ruht (Gen 2,2; Ex 20,10; Dtn 5,14 usw.), er kehrt um, wendet sich zurück (Sach 1,16: 8,3). - Im Ganzen geht es um verschiedene Umschreibungen dessen, wie Gott näherkommt und aktiv wird.
4. Arbeit: Gott baut (Ex 15,17; 1.Kön 11,38; Am 9,11; Hes 36,36; Ps 127,1), er bildet oder formt (Gen 2,7.8.19; Jes 43,1; Jer 1,5; Sach 12,1; Ps 94,9). er schreibt (Ex 31,18; 32,16; Dtn 9,10; 10,2-4; Mal 3,16; Ps 139,16), er kämpft (Ex 14,14.25; Jos 10,42; Ri 20,35; Sach 14,3 usw.), er spannt den Himmel auf wie ein Zelt (Jes 40,22; 42,5; Ps 104,2 usw.), er pflanzt einen Garten (Gen 2,8) und begießt ihn (Jes 27,3). - Auch Gottes Arbeit ist eigentlich ein ständiger Einsatz für den Menschen. Gott arbeitet für ihn, für seine Schöpfung, die nach dem Sündenfall neu geschaffen werden muß.
Die Reihe der Beispiele von Gottes Tun könnte man beliebig erweitern. Eigentlich gibt es nur wenige menschliche Tätigkeiten, die die Bibel Gott nicht zuschreibt. Verglichen mit den Körperteilen, allgemein mit den Substantiven, sind die auf Gott bezogenen Verben viel häufiger. Ohne verbale Anthropomorphismen (manchmal werden sie auch Anthropopathismen genannt) wäre es überhaupt nicht möglich, von Gott zu reden. Die Bibel kennt nur ganz vereinzelte Verben, die allein für Gottes Tätigkeiten vorbehalten sind (zB. erschaffen - hebräisch: bara).
Am deutlichsten wird das bewiesen durch die Verehrung Gottes in Gestalt goldener Kälber in den nordisraelitischen Heiligtümern Bethel und Dan, die nach 1.Kön 12,25-32 der erste nordisraelitische König Jerobeam einführte. Schon Ex 32 wird erzählt, wie Aaron dem ungeduldigen Volk ein derartiges Kalb anfertigte, während Mose sich auf dem Gottesberg aufhielt. Totemismus, die Verehrung Gottes oder der Götter in Tiergestalt, stellte zweifellos eine erhebliche Gefahr für den Glauben Israels dar, nicht zuletzt wegen der besonderen Eigenart des Totemismus bei den Naturvölkern. In Mesopotamien hatte fast jeder Gott sein Symbol- oder Emblemtier, I¹tar zB. die Taube. Und in Ägypten war es sogar üblich, Götter mit Tierköpfen darzustellen. Sie liehen sich dabei die Köpfe ihrer jeweiligen heiligen Tiere aus.
Diesen Vorstellungen mußte Israel wirksam begegnen, und so ist es kein Zufall, daß der Gott Israels im ganzen Alten Testament nicht ein einziges Mal in Tiergestalt auftritt. Er wird lediglich einige Male entfernt mit einem Adler verglichen (vgl. Ex 19,4; Dtn 32,11; Hes 17,3). Immer handelt es sich jedoch eindeutig um Vergleiche. Außerdem hat Danìk schon 1935 gezeigt, daß sich hinter dem hebräischen ne¹er (Adler) wahrscheinlich das ägyptische neter (Gott) verbirgt, ganz allgemein als Gattungsbsbezeichnung (nomen appelativum).[14] Das Bild des Raubvogels, Falke oder Adler, war jedoch in der Hieroglyphenschrift Kennzeichen (Determinativ) Gottes. Damit hängt zusammen, daß Ex 19,4 von Gottes Flügeln spricht. Weitere Stellen zeigen jedoch, daß es sich um eine Abkürzung des Bildes vom Adler handelt (vgl. Dtn 32,11; Jer 48,40; 49,22; Hes 17,3). Geborgenheit unter Flügeln bedeutet Schutz. So werden Flügel oder der Schatten von Flügeln in der Bibel einige Male als Bild für Schutz erwähnt (vgl. Ruth 2,12; Ps 17,8; 36,8; 57,2; 61,5; 63,8; 91,4).
Ebenso sonderbar wie der Vergleich Gottes mit dem Adler ist das Bild des Stieres. Hierbei wird durchgehend der Ausdruck abir benutzt, der im Akkadischen ursprünglich die Bedeutung 'kräftig' hatte und erst davon abgeleitet in einigen semitischen Sprachen auch 'Büffel', offenbar das stärkste bekannte Tier, bezeichnet, im Ägyptischen dagegen 'Hengst'. Auf Gott wird es nur in den Wendungen 'Starker Jakobs' (Gen19,24; Jes 49,26; 60,16; Ps 132,2-5) und 'Starker Israels' (Jes 1,24) bezogen. Der gewöhnliche Ausdruck für Stier ist par oder sor. Mit diesen wird Gott jedoch nirgends verglichen. Die Kraft des Büffels oder des Stiers ist in seinen Hörnern verkörpert. Diese kommen in Verbindung mit Gott nur in Hab 3,4 vor, wo der hebräische Wortlaut aber schwer verständlich und im revidierten Luthertext nicht erkennbar ist. Das liegt daran, daß der hebräische Ausdruck qeren sowohl 'Horn' als auch 'Strahl' bedeutet. So beschreibt etwa Ex 34,29 ursprünglich, daß Moses Angesicht strahlte, als er vom Berg herabstieg. Da jedoch das Verb qaran gebraucht wurde, heißt es in der griechischen Übersetzung des Aquila und nachfolgend dann auch in der lateinischen Vulgata, Moses Angesicht sei gehörnt gewesen, was unter anderem die berühmte Mosestatue von Michelangelo Buonarotti inspirierte.
Es ist sicher kein Zufall, daß sich das Alte Testament bei Vergleichen Gottes mit Tieren auffällig zurückhält. Das hat nicht nur den negativen Grund der Abwehr des Totemismus, sondern auch einen positiven Grund: Der sich zum Menschen herabneigende Gott kommt ihm bereits im Alten Testament in menschlicher Rede und im Neuen Testament dann auch in menschlicher Gestalt viel näher. Denn die Tiere, wenngleich sie Teil der von Gott gewollten Vielfalt des Lebens auf der Erde sind, haben die Gemeinschaft mit Gott nur durch den Menschen vermittelt. Dieser soll ihnen durch sein verantwortungsvolles Verhalten bezeugen, daß sie in einer Welt leben, deren Schöpfer, Erhalter und letzter Richter der liebende Gott ist.
Im Vergleich zu dieser Buntheit und Vielfalt ist das Alte Testament bemerkenswert nüchtern und zurückhaltend. An den Wendungen, in denen Gott mit irgendeiner Sache verglichen wird, ist deutlich ersichtlich, daß es immer nur um eine Metapher geht, also nur um einen Vergleich, nie also um Identifizierung. Gott wird dann durchweg mit Gegenständen verglichen, die eine Umschreibung der schützenden Fürsorge für Israel oder den Psalmbeter sind. In den Psalmen finden wir auch die meisten derartigen Vergleiche.
Im ganzen Alten Testament kommen nur acht Substantive und vier zweigliedrige Wendungen in Betracht.[16] Wir wollen sie wieder in der Reihenfolge des hebräischen Alphabets durchgehen:
1. der Schild (magen) kommt häufig vor: Gen 15,1; Dtn 33,29; 2.Sam 22,3.33; Ps 3,4; 7,11; 18,3.31; 28,7; 33,20; 84,12 Sonne und Schild; 115,9-11; 144,2; Spr 2,7; 30,6;
2. der Zufluchtsort (manus): 2.Sam 22,3; Jer 16,19; Ps 59,17;
3. die Festung (ma'oz): 2.Sam 22,33; Jer 16,19; Ps 31,5; 43,2 usw.;
4. ein unzugänglicher Ort (mecuda): 2.Sam 22,2; Ps 18,3; 31,4; 71,3; 91,2; 144,2;
5. die Hoheit (marom): Ps 92,9; Jes 57,15; Jer 17,12; Mi 6,6;
6. die Burg (misgab - Lutherübersetzung: Schutz): - 2.Sam 22,3; Ps 9,10; 18,3; 46,8.12; 48,4; 59,10.17f; 62,3.7; 94,22; 144.2;
7. der Fels (sela): 2.Sam 22,2; Ps 18,3; 31,4; 42.10; 71,3;
8. das Felsenriff (cur): Dtn 32,13.37 der Fels, der dich gezeugt hat; 1.Sam 2,2; 2.Sam 22,32 usw.
Die erwähnten zweigliedrigen Wendungen sind:
1. das Schwert deiner Hoheit (chereb ga'avateka): Dtn 33,29;
2. das Haus der unzugänglichen Orte (bet mecudot): Ps 31,3;
3. die Felsennische (cur ma'on): Ps 71,3;
4. das Horn meines Heils (qeren ji¹'i): Ps 18,3.
Daß es sich dabei durchweg nur um Umschreibungen handelt, ist zwar im Hebräischen klar, in der griechischen Übersetzung ist dies jedoch nicht mehr so eindeutig. Für die Griechen war es durchaus vorstellbar, daß es irgendwo einen göttlichen Felsen, während im Hebräischen die Wendung "Gott ist ein Fels" nur in dem Sinne verstanden werden kann, daß Gott so fest wie ein Fels ist. Subjekt und Prädikat sind hier nicht austauschbar - damit steht und fällt der Glaube: Gott ist für uns ein Fels, aber ein Felsen ist für uns nicht Gott. Der biblische Gott ist sicher Liebe, Wahrheit, Barmherzigkeit und Hoffnung. Doch Liebe - bzw. das, was die Menschen Liebe nennen - ist nicht Gott. Auch nicht die Wahrheit, die Barmherzigkeit oder die Hoffnung sind nicht Gott. Der wahre Gott ist immer mehr als das, was wir über ihn aussagen können, er überschreitet es, oder mit dem Fremdwort ausgedrückt: Er ist transzendent. Deshalb spricht man von der Transzendenz Gottes, von seiner Unfaßbarkeit, die verhindert, daß wir ihn auf irgendweise in die Hand bekommen können.
Für die Juden war das eine Selbstverständlichkeit, aber die Griechen hatten damit Probleme, und so übersetzten sie solche Vergleiche Gottes mit Gegenständen durchgehend bis auf etwa zwei Ausnahmen nicht wörtlich, sondern umschrieben sie. Statt "Gott ist mein Schild" heißt es dann zB. "Gott ist es, der mir den Schild hält", oder anstelle von "Gott ist meine Feste, meine Zuflucht", lesen wir "Gott ist mein Schutz, mein Beschirmer". Sie setzten einfach die Person an die Stelle der Sache, damit niemand auf den Gedanken kommt, Gott mit irgendwelchen Götzensteinen, Schilden oder Pfeilen zusammenzudenken.[17]
Konzentrieren wir uns auf die wesentlichen theologischen Ergebnisse konzentrieren: Wenn wir das Alte Testament für die Heilige Schrift halten, entstanden durch die Wirkung des Heiligen Geistes, können wir sagen: Gott will nicht, daß wir von ihm wie von einem Gegenstand sprechen oder uns ihn als solchen vorstellen. Die ganze Bibel, nicht nur das Alte Testament, betont immer wieder, daß der Gott Israels ein lebendiger Gott ist (vgl. Jer 10,10). Wie bei den Tieren handelt es sich überall dort, wo Gott im Zusammenhang mit Gegenständen erwähnt wird, nur um Vergleiche, um Metaphern.
Anders verhält es sich, wenn Gott mit einem Menschen verglichen wird. Freilich handelt es sich auch dort um Metaphern. Gott hat nicht das Aussehen und die Gestalt oder das Gesicht eines Menschen, das weiß die Bibel gut. Aber während die Vergleiche mit Tieren und Gegenständen nur Randerscheinungen sind, die man auch weglassen könnte, ohne die biblische Botschaft zu verfälschen, sind die Anthropomorphismen unverzichtbar. Sie geben uns überhaupt erst die Möglichkeit, von Gott zu reden - und Gott will, daß wir von ihm reden, seine großen Taten bezeugen und seine Herrschaft bekennen. Und daraus folgt: Gott gibt uns in der Heiligen Schrift ausdrücklich die Erlaubnis, daß wir über ihn mit menschlichen Worten reden, menschliche Vorstellungen und Begriffe gebrauchen und so Beziehung zu ihm treten. Dazu hat er uns selbst berufen.
Gott neigt sich zu uns herab, wenn er sich selbst in die menschliche Sprache hineingibt und uns erlaubt, über ihn zu sprechen. Dieses sehr bedeutsame Herabneigen ist Ausdruck seines Wunsches, uns nahe zu sein, Gemeinschaft mit uns zu haben. Wir könnten sagen, daß Gottes Einverständnis damit, daß wir über ihn und mit ihm in menschlichen Worten sprechen, der Beginn seines Herabsteigens zu uns ist, gewissermaßen das erste Herabsteigen, während Christus Ziel und Ende seines Herabsteigens markiert. Ende nicht in dem Sinn, daß nach Christus Gott nicht mehr bei uns wäre, sondern in dem Sinn, daß er uns in Christus definitiv nahegekommen ist, so daß wir ihn nicht mehr aus unserer Nähe vertreiben können, auch wenn wir uns schon fast zweitausend Jahre lang die größte Mühe geben.
Mit anderen Worten: Die Bibel zeigt uns in der Geschichte Adams, daß Gott von Anfang an in Beziehung zum Menschen stand bzw. daß der Anfang des Menschseins in seiner Beziehung zu Gott liegt. Der Mensch existierte auf der Erde von dem Augenblick an, da es ein Geschöpf gab, das mit Gott in Beziehung treten konnte. Aber dieser Möglichkeit geht die Wirklichkeit voraus: Der Mensch konnte mit Gott in Verbindung treten, weil Gott bereits selbst die Kommunikation aufgenommen hatte. Und die menschliche Sprache ist - kurz gesagt - die Folge dessen, daß der Mensch von Gott angesprochen wurde. Ich glaube nicht, daß sich die menschliche Sprache aus den Warnschreien der Affen entwickelt hat. Ich sehe es anders. Gott schenkte dem Menschen zu Beginn der Menschheitsgeschichte seine Gemeinschaft. Hierin liegt das Wesen der Erschaffung des Menschen. Und diese Gemeinschaft konnte nicht ohne Ausdruck bleiben. So entstand die menschliche Sprache als Ausdruck des Bedürfnisses, mit Gott und dem Nächsten zu sprechen. In diesem Sinn ist die Sprache eine Gabe Gottes, ein Instrument der von ihm gewollten Gemeinschaft mit dem Menschen. Und zugleich erlaubt Gott damit, daß wir über sein Werk für uns und mit uns sprechen, ohne daß wir freilich dadurch Gottes Wesen erfassen und seine Transzendenz aufheben könnten. Das ist der Sinn des Sichherabneigens Gottes in die menschliche Sprache. Und in diesem Sinn ist Gottes Zugeständnis, ja sein Wunsch, daß wir menschlich von ihm sprechen, eigentlich der erste Schritt in Richtung auf die Inkarnation, die Menschwerdung Jesu Christi. Natürlich liegt zwischen dem Augenblick, an dem der Mensch Gottes Wort wahrzunehmen und anzunehmen beginnt, und dem Augenblick seines Kommens ins Fleisch ein langer Weg. Die Bibel führt ihn uns vor Augen. Aber in all dem ist der eine, einzige Gott am Werk, und es ist ein einziges Werk, das sich von der Erschaffung bis zur Erlösung des Menschen erstreckt.
Fassen wir das bildlich kurz zusammen: Als Gottes Wort zum erstenmal zum Menschen kam, begann der Mensch Mensch zu sein und von Gott zu reden. Und Gott kam immer wieder im Wort zu ihm. Aber der Mensch lehnte und lehnt sich gegen Gottes Wort auf. Und so kam Gott zum Menschen im Fleisch, in Jesus Christus, damit der Mensch ihn nicht aus seiner Nähe entfernen kann. Kann man dafür etwas anderes als Dankbarkeit empfinden?
Dessenungeachtet gelangte diese Lehre erst in der Reformationszeit in den Vordergrund und wurde hauptsächlich von der reformierten Strömung entwickelt, während diese Ämter in vorreformatorischer Zeit häufig nur zusammen mit den übrigen Titeln Christi erwähnt wurden. In der lutherischen Strömung ist die Lehre vom zweifachen Amt Christi zu Hause. Wir widmen dem einen eigenen Paragraphen.
Diese beiden Ämter wurden dann schon von christlichen Schriftstellern des 2. Jahrhunderts zur Verdeutlichung des Werkes Christi herangezogen. Erwähnung finden sie namentlich bei Justin, Athanasius, Laktancius und Augustin (siehe Realencyklopädie Bd 8,733f). Zu den mittelalterlichen Schriftstellern, die an die beiden Ämter Christi erinnern, gehören u.a. Alkuin und Peter Lombardus.
Es ist interessant, wie der bekannte antike Schriftsteller Euseb von Cäsarea (263-339) die Lehre vom zweifachen Amt Christi ableitet. In seiner Kirchengeschichte (1,3) geht er von dem Doppelnamen Jesu Christi aus und erklärt Jesus durch Josua als Herrscher, Führer und König, Christus aber als durch Aaron gesalbten Hohenpriester. Darin folgten ihm dann Cyrill und Rufinus. Es ist möglich, daß Euseb sich von alten Vorlagen inspirieren ließ, schon Tertullian (ungefähr 160-220) verstand den Titel Christus (Gesalbter) als Ausdruck des Priesteramtes. Euseb erwähnt daneben aber auch das dreifache Amt - offenbar beeinflußt von der Weise, wie das Alte Testament von den Gesalbten spricht. Er schreibt, daß der eine und wahre Christus, von dem in Jes 61,1 und Ps 45,8 die Rede ist, die Fülle des Heiligen Geistes besitzt, so daß er mit seiner Person alle Sehnsüchte des Volkes Gottes erfüllen könne. Vorläufige Abbilder dieses wahren Gesalbten sind die Gesalbten des Alten Testaments, also die Priester, Profeten und Könige (siehe Realencyklopädie Bd. 8, S. 733-736).
Danach schwiegen sich die christlichen Theologen über diese Dinge lange aus. Thomas von Aquin (1225-1274) erwähnt sie zwar einmal, aber da geht es um eine andere Dreiheit, um die von Gesetzgeber, Priester und König. In seiner Summa III,22,1 heißt es: "Andere Menschen haben verschiedene Teil-Charismen, aber Christus als Haupt aller hat die Vollkommenheit aller Charismen. Soweit es um andere Menschen geht, sind daher Gesetzgeber, Priester und König verschiedene Personen, aber in Christus als der Quelle aller Gnade treffen alle Gnadengaben zusammen." Freilich zeugt das Ersetzen des "Profeten" durch den "Gesetzgeber" von dem hervorragenden Scharfblick des Thomas. Wir werden noch zeigen, daß es bei dem Profetenamt Christi eigentlich um den neuen Mose geht - den Gesetzgeber. Es ist zu beachten, daß Thomas nicht ausdrücklich an die Bibel anknüpft. Er spricht nicht direkt vom "Amt" (lateinisch munus), und aus seiner Dreiheit ließ sich nichts ableiten. Man kann ihn also nicht zu den offensichtlichen Vertretern der Lehre vom dreifachen Amt Christi zählen.
Auch später stand diese Lehre nicht im Mittelpunkt des Interesses römisch-katholischer Theologen. Ein Beispiel ist der traditionelle römische Katechismus, der in Absatz I,3,5 Christus die Fülle der theokratischen Ämter zuschreibt. Theos ist griechisch Gott und kratos Herrschaft. Theokratisch sind also die Ämter, die die Gottesherrschaft betreffen. Mit diesen Ämtern hängt die Überzeugung Augustins und Thomas' zusammen, Christus sei Träger der Fülle der Gnade und des Heiligen Geistes. Trotzdem blieb es die Ausnahme, daß die genannte Anschauung direkt mit der Lehre vom dreifachen Amt Christi verbunden wurde. Erst die ökumenischen Gespräche neuerer Zeit hatten zur Folge, daß auch römisch-katholische Untersuchungen sich mit diesem Thema beschäftigen.[18]
Für Luther hat das priesterliche Amt Vorrang vor dem königlichen, weil es Christi Beziehung zu Gott betrifft, während das königliche Amt eher seine Beziehung zu den Menschen beschreibt. Darin unterscheidet er sich von Calvin, der das Gewicht auf das königliche Amt legt, und von Barth, der besonders das profetische Amt betont. Mit beiden werden wir uns noch genauer beschäftigen. Luthers Ausgangspunkt läßt sich etwa so zusammenfassen: Christus ist als Erstgeborener sowohl König als auch Priester und gibt seinen Brüdern Anteil an dieser zweifachen Rechtsstellung, so daß sie durch ihn ebenso Könige und Priester werden. Das Anteilgeben ist wichtig. Es zeigt, wie Christus mit ihnen ist und sie mit ihm. Entscheidend ist dabei der Glaube: "Wenn du glaubst, hast du, wenn du nicht glaubst, hast du nicht."
Luther wird hier von dem Bemühen geleitet, die Lehren von Person und Werk Christi, die vor seiner Zeit getrennt behandelt wurden, zu einem Ganzen zu verbinden. Die Scholastik entfaltete die Lehre von Christus in zwei Abschnitten: Die Lehre von der Person Christi und die Lehre von seinem Werk. Der erste Abschnitt hatte traditionell das Dogma von den zwei Naturen Christi zum Inhalt, der göttlichen und der menschlichen, der zweite beschäftigte sich dann damit, wie Christus die Gnade erlangte, durch deren Austeilung er sein Rettungswerk verwirklichen konnte. Traditionell, also bei Theologen, die vor Luther wirkten und auch später in der reformierten Strömung, wurden die Ämter Christi von den Ämtern im Alten Testament abgeleitet, die einer Salbung mit heiligem Öl bedurften. Darüber sprachen wir schon ausführlicher in § 4 und 5. Luther hat dagegen versucht, die Lehre von den beiden Ämtern aus Gen 49,3 zu entwickeln. Dort geht es um das Erstgeburtsrecht Rubens. Sowohl Priester- als auch Königtum waren für Luther mit dem Erstgeburtsrecht verbunden. Es stimmt, daß beide sich auf den Erstgeborenen vererbten. Aber gerade Ruben erbte es - wegen seiner Sünde - nicht. Mit der Betonung des Erstgeburtsrechts wollte Luther festhalten, daß Christus nicht erst bei der Taufe König und Priester wurde, was schon in der Alten Kirche einige häretische Strömungen behaupteten, sondern daß er Christus bereits als Priester und König geboren wurde. Beide Ämter durchdringen sich gegenseitig in seiner Person und bestehen im Glauben an das Wort des Evangeliums weiter fort, so daß Christus zu nichts anderem gesandt wurde als zum Dienst des Wortes (officium verbi).
Im Unterschied zu Luther ordneten reformierte Theologen den Dienst des Wortes dem Amt des Profeten zu und trennten es so vom Priestertum und Königtum.[19] Luthers Interesse gilt dem, was dem priesterlichen und dem königlichen Amt gemeinsam ist. Das ist seiner Meinung nach das Wort, das auf den Glauben zielt. Dabei zeigt die Beziehung zwischen Wort und Glaube als eine der maßgeblichen Polaritäten in Luthers Denken. Andere sind etwa der Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium oder zwischen weltlichem und geistlichem Bereich - die Lehre von den zwei Reigmentern Christi - zwischen verborgenem und offenbartem Gott. Diese Gegensätze überwindet Luther dann durch ihre Vereinigung, also im Grunde durch die dialektische Methode. So auch beim zweifachen Amt: Christi Priestertum hat seinen Schwerpunkt im Opfer am Kreuz, sein Königtum dann in der Vollmacht des Auferstandenen (Mt 28,18). Damit nähert sich die Lehre vom zweifachen Amt Christi der älteren Lehre von den beiden Ständen, dem Stand der Erniedrigung und dem der Erhöhung (Phil 2,6-11). Auch die königliche Macht ist jedoch vor allem geistliche Macht (potestas spiritualis). Sie erweist sich in der inneren Überwindung aller Äußerungen des Feindes - des Teufels - von Ohnmacht, Angst und Tod. Gerade in dieser Überwindung der Macht des Feindes kommt die wahre christliche Freiheit zu Wort, die sich dann gegenüber den Menschen in Liebe kundtut. Das Priesteramt Christi bringt die Versöhnung mit Gott und dadurch einen neuen freien Zugang zum Vater. Auch hier geht es um die zweifache Bewegung: einmal im Hinzutreten zu Gott und dann um die Hinwendung zum Nächsten. So hat es Christus gemacht, und dazu fordert er auch uns auf. Unser Hinzutreten zu Gott geschieht vor allem im Gebet, die Hinwendung zum Nächsten dann hauptsächlich in der Verkündigung des Evangeliums. Wer es nicht verkündigt, ist kein Priester - so kritisiert Luther die rein zeremonielle Form des Priestertums.[20]
Im Unterschied zu den Scholastikern, die die Lehre von Person und Werk Christi in zwei Abschnitte aufteilten, sieht Luther beide als eng zusammengehörig an. Dies ist sein Anliegen, und zu seiner Formulierung reichen ihm die beiden Ämter völlig aus. Die Gestalt Christi erklärt Luther in ihrer Beziehung zum Menschen: Das, was Christus ist (Person) und was er wirkt (Werk), wendet die Situation des Menschen von der Verdammung zum Heil. Luthers Christologie ist also gleichzeitig Soteriologie.
Luthers Konzeption ist eindrucksvoll, durchdacht und tiefgehend. Aber mit ihr sind auch einige Schwierigkeiten verbunden. Am problematischsten ist wohl die Möglichkeit, daß sich hier der Nachdruck vom Wort Gottes als dem Grund des Glaubens auf den Glauben selbst verschieben könnte und dadurch dem Glauben mehr zugesprochen würde, als wirklich in seinen Kräften liegt. Anders gesagt, es entsteht die Frage, ob sich im Rahmen der Konzeption Luthers oder seiner Nachfolger, vielleicht nur verborgen und unauffällig, das Heil durch den Glauben (griechisch: dia tes pisteos, Genitiv) nicht in ein Heil um des Glaubens willen (griechisch: dia ten pistin, Akkusativ) verwandelt, die Rettung also durch den Glauben selbst und nicht mehr durch Gottes Gnade bewirkt wird. Aber damit haben wir den Problemkreis der Ämter Christi bereits verlassen. Denken wir daran, daß die Fragen kompliziert und in manchem offen sind.
In der späteren lutherischen theologischen Tradition, die die Lehre von der Rechtfertigung immer mehr ins Zentrum rückte, geriet die Lehre von den Ämtern Christi an den Rand der Theologie und drohte fast ganz verloren zu gehen. Wo sie noch in Erscheinung trat, wurde das königliche Amt meist auch dem priesterlichen untergeordnet, das mit dem Werk der Versöhnung deutlicher auf das rechtfertigende Opfer Christi am Kreuz hinweist. Charakteristisch für die lutherische Theologie wurde in der Folgezeit, daß sie sich bemühte, allein vom Evangelium auszugehen. So führt auch ihr Weg in das Alte Testament über die Person Christi. Und oft sah sie im Alten Testament nur das Gesetz im Gegensatz zum Evangelium. So ging freilich auch das Gespür für die Vielgestaltigkeit und Tiefe der alttestamentlichen Botschaft verloren - gewiß eher bei den Systematikern als bei den biblischen Theologen. Ganz allgemein darf man wahrscheinlich sagen, daß sich die reformierte Strömung eingehender mit der selbständigen theologischen Bedeutung des Alten Testaments befaßte.
Auch Calvin hält sich in den frühen Ausgaben seiner Institutio aus den Jahren 1536 und 1539 noch an die traditionellen zwei Ämter. Es handelt sich nur um wenige Bemerkungen, die nicht in einem selbständigen Absatz ausgeführt werden. Seit den Vierziger Jahren, also im Genfer Katechismus und in den weiteren Ausgaben der Institutio, fügt Calvin jedoch das dritte, das profetische Amt hinzu. Im Absatz 34 des Genfer Katechismus von 1542 heißt es: "Was will das Wort Christus weiter sagen? - Mit diesem Titel ist sein Amt noch besser beschrieben. Das heißt, er wurde gesalbt vom himmlischen Vater, damit er uns zum König, Priester oder Opfernden und Profeten werde". Das ist offensichtlich die Grundlage für die klassische Formulierung des Heidelberger Katechismus, die hier ausführlich zitiert sei. Die Frage 31 lautet:
"Warum ist er Christus, das ist, ein gesalbter, genannt? - Antwort: Daß er von Gott dem Vater verordnet und mit dem heiligen Geist gesalbt ist, zu unserem obersten Profeten und Lehrer, der uns den heimlichen Rat und Willen Gottes von unser Erlösung vollkomlich offenbaret; und zu unserem einigen hohen Priester, der uns mit dem einigen Opfer seines Leibs erlöst hat und immerdar mit seiner Fürbit für dem Vater vertritt, und zu unserem ewigen König, der uns mit seinem Wort und Geist regiert, und bei der erworbenen Erlösung schützet und erhält."[21]
Wie entwickelte sich die Lehre vom dreifachen Amt Christi weiter? Calvin schreibt ausführlicher darüber in einer späteren Ausgabe der Institutio (II,15,2): Christus als König des geistlichen und ewigen Reiches bringt nicht nur äußerliche und vergängliche Hilfe, sondern rüstet die Christen vor allem mit geistlichen Gütern für das ewige Leben aus und wehrt alle Feinde ab. So erweist er sich seinem Volk als Hirte, den Feinden aber als Richter. Als Priester erwirbt er die ewige Versöhnung und tritt für die Christen bei Gott so ein, daß er sie nicht mehr wie ein Richter, sondern wie ein gnädiger Vater behandelt. Und als Profet unterweist er uns in der Wahrheit Gottes. So erlaubt uns das dreifache Amt Christi, daß wir alle in seiner Person das Heil finden (vgl. auch II,16,19). Und so ist Christus selbst auch ständig wirkende Ursache dessen, daß seine Kirche im profetischen, sieghaft königlichen und hingebungsvoll priesterlichen Dienst steht. Christus ist nicht allein Träger des Geistes, sondern er schenkt ihn auch seinem Leib, der Kirche. Dieser Vorgang ist der geeignete Ausdruck für das, was Calvin ständig betont, daß nämlich unsere Gemeinschaft mit Gott nicht auf einem vereinzelten isolierten Werk Christi beruht oder auf seiner nur (göttlichen oder menschlichen) Natur, sondern auf der lebendigen Gemeinschaft mit seiner lebendigen Person. Oder einfacher gesagt: daß Christus durch die, die ihm gehören, als Profet, König und Priester weiter wirksam ist.
Besonders problematisch war der Versuch, jedes Amt Christi einem bestimmten Zeitabschnitt im Leben Jesu zuzuordnen. Christus war angeblich in der ersten Zeit seines Lebens Profet; als er sich opferte, war er Priester, und zuletzt ist er als Auferstandener König. Hierin zeigt sich schon die Gedankenführung der historischen Konzeptionen einer späteren Zeit. Folgte man dieser Auffassung, dann könnte Christi wohl kaum durch die Kirche als ewiger Profet, Priester und König handeln. Er wäre dann in jenen drei Abschnitten seines Lebens höchstens ein Vorbild für die. die ihm nachfolgen und ihn bezeugen sollen und wahrscheinlich auch seinetwegen Opfer bringen mit der Aussicht, daß sie auch mit ihm herrschen werden. So sprachen einige Dogmatiker Christus vor der Auferstehung das königliche Amt und dem Auferstandenen wieder das profetische Amt ab. So gerieten sie in Gegensatz zu der Lehre, die schon bei Augustin und Thomas von Aquin anklingt und an die auch Calvin sich hält, nach der Christus die Fülle der Macht hat, was ja eben gerade in der Lehre von seinen Ämtern zum Ausdruck kommt.[22]
Den spekulativen Orthodoxen widersprach Johannes Coccejus (1603-1669), wohl der bedeutendste Vertreter der reformierten Orthodoxie des 17. Jahrhunderts und Begründer der Föderaltheologie. 'Foedus' ist das lateinische Wort für Bund. Coccejus versuchte die biblische Botschaft zu erfassen, indem er sie in eine Aufeinanderfolge von Bundesschlüssen gliederte: 1. der Bund Gottes mit Adam (der freilich umstritten blieb, weil in den Bibelstellen über Adam niemals der Ausdruck Bund vorkommt), 2. der Bund mit Noah, 3. der Bund mit Abraham, 4. der Bund mit Mose usw.[23]
Vor allem kehrte Coccejus von der Spekulation zur Bibel zurück. Von den drei Ämtern sagt er, die Reihenfolge Profet - Priester - König bezeichne nur der Art und Weise, wie sich Jesus stufenweise dem Volk offenbart hat. Dessenungeachtet trüge er jedoch ständig alle drei Ämter in sich selbst. Sachlich müsse eigentlich das Priestertum an erster Stelle stehen. Christus war nämlich von Ewigkeit her als Opfer für unsere Erlösung verheißen. Dann folge das königliche und zuletzt das profetische Amt. Das ist logisch. Zuerst hat er sich erniedrigt und geopfert, dann wurde er zum König erhöht, und schließlich regiert dieser Erhöhte durch sein Wort als bevollmächtigter Profet. Diese Reihenfolge ist zugegebenermaßen nur eine von vielen Möglichkeiten. Geht man von einem anderen Gesichtspunkt aus, ließe sich auch eine andere Reihenfolge begründen. Dennoch ist sie durchaus zweckmäßig. Deshalb werden wir sie in den folgenden Abschnitten benutzen, auch wenn sie niemals ganz konsequent ist.
Demgegenüber kehrte der bedeutendste Vertreter der Romantik Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) zur Lehre vom dreifachen Amt zurück. Er begründete die Notwendigkeit aller drei Ämter aus menschlichen Bedürfnissen: Ohne das profetische Amt würde die Heilsvermittlung zur Magie, ohne das königliche verlöre der Glaube die Gemeinschaftsdimension, und ohne das priesterliche Amt verlören die Gebote Christi ihren religiösen Gehalt. Mit solchen Argumenten können wir uns heute kaum identifizieren, aber für Schleiermacher sind sie bezeichnend.
Heinrich Heppe (1820-1879) tritt für die Rückkehr zur Reformation und zu der Lehre vom dreifachen Amt Christi ein. Schon in seinem Frühwerk[24] von 1857, in dem er die theologische Situation der Dogmatik im 16. Jahrhundert analysiert, beschäftigt er sich mit ihr. Gründlich analysiert er dann das dreifache Amt in seiner großen Dogmatik[25].
Im 20. Jahrhundert beschäftigte sich Karl Barth mit dem dreifachen Amt - zweifellos auf besonders eigentümliche und schöpferische Weise.[26] Barth knüpft ausdrücklich an Heppe an und behandelt das dreifache Amt Christi besonders im vierten Band seiner Dogmatik im Rahmen der Versöhnungslehre.[27] Darin folgt Barth auch Luther, ebenso in seinem Versuch, die alten christologischen Dogmen über Person und Werk Christi im Zusammenhang darzustellen: die Lehre von den zwei Naturen Christi, der göttlichen und der menschlichen; die Lehre von den zwei Ständen, der Erniedrigung und der Erhöhung; und die Lehre über die Ämter Christi. Barth verbindet also ebenso wie Luther die Christologie (Lehre von Christus) mit der Soteriologie (Lehre von der Erlösung). Gottes Tat der Versöhnung in Christi Opfer bleibt dabei freilich jeder ihrer Aneignungen im Glauben vorgeordnet. Darauf legt Barth besonderen Nachdruck. Gottes Versöhnungswerk in Christus stellt er über alles, was im glaubenden Menschen geschehen kann. Er faßt die Lehre von der Versöhnung in zwei kurze Nominalsätze: "Jesus Christus - der Herr als Knecht" und "Jesus Christus - der Knecht als Herr". Unter diesen Gesichtspunkten erörtert er auch das dreifache Amt.
Priester- und Königsamt, die auf Rechtfertigung und Heiligung zielen, passen in dieses Schema gut hinein.[28] Das profetische Amt scheint es jedoch zu sprengen. Darüber sprachen wir bereits im Zusammenhang mit der Luthers Konzeption der Ämter Christi. Barth hat jedoch am profetischen Amt Christi besonderes Interesse. Zentral ist hier für ihn der Begriff der Gotteserkenntnis. Die Legitimität, von einer Erkenntnis Gottes zu sprechen, verteidigt Barth auf besondere Art: Die Erkenntnis des Glaubens ist eine objektive Erkenntnis, weil sie durch den Heiligen Geist gewirkt oder vermittelt wird. Durch die Ausübung des profetischen Amtes offenbart Christus die Versöhnung, die in ihm Wirklichkeit geworden ist. So gipfelt Bartns Versöhnungslehre im 3. Teil überschrieben "Jesus Christus - der wahrhaftige Zeuge".[29]
Barth greift in diesen Kapiteln seiner großen Dogmatik auf die Lehre vom dreifachen Amt zurück, um durch sie den Offenbarungsanspruch des Versöhnungswerkes in Christus zu stützen. Damit, so wenden Vertreter der lutherischen Konzeption wie die schon erwähnte Karin Bornkamm ein, geht Barth über die Reformation hinaus und begründet seine Versöhnungslehre anders als die Reformatoren, vor allem aber anders als Luther.
Worin liegt das Problem? Die Rechtfertigung, bei den Reformatoren mit dem Priesteramt verbunden, und die Heiligung, verbunden mit dem Königsamt, sind laut Barth ein für allemal gegeben und gelten für alle. Hier steht das apostolische "ein für allemal" des Todes Christi im Hintergrund der Barthschen Akzentsetzung (griechisch ef hapax Röm 6,10; Hebr 7,27; 9,12; 10,10). Die schon in Christus vollendete Rechtfertigung und Heiligung muß allerdings offenbart werden. Und diese Offenbarung ist nach Barth das Wesen des profetischen Amtes Christi. Und hieraus ergibt sich dann auch die Aufgabe derer, die diese Offenbarung angenommen haben: Sie sollen Zeugen sein. Das profetische Amt vermittelt und offenbart also das, was Inhalt des priesterlichen und königlichen Amtes ist. Dadurch reduziert Barth freilich die persönliche Dimension des Glaubens auf die Erkenntnis und Anerkennung des Sieges Christi. Für eine innige, persönliche Beziehung zu Christus ist in der Barthschen Konzeption also weniger Raum als in der lutherischen Lehre, besonders in ihrer pietistischen oder erwecklichen Gestalt. Der Glaube wird für Barth im wesentlichen zu einer Proklamation des Sieges Christi, die freilich auch mit der Aufgabe zusammenhängt, so zu leben, daß Christus schon jetzt im Leben der Gläubigen zu Wort kommt und dadurch seine Macht und seinen Ruhm offenbart. Dadurch führt Barth die reformierte Tradition weiter. Im Unterschied zu Barth ist für Luther und seine Schüler die persönliche Existenz der Kampfplatz des Christen, wo er, in der Kraft der Rechtfertigung aus Glauben den zerstörenden Kräften des Gesetzes, also der Sünde, des Teufels und des Todes, widersteht. Luther ist also persönlicher, Barth ist objektiver. Barth konzentriert sich nicht auf den einzelnen und seine Ängste, auf sein inneres Ringen um Glaubensgewißheit, die das Evangelium von der Rechtfertigung allein aus Glauben erschließt. Barths zentrales Prinzip, das die Struktur der christlichen Existenz bestimmt, ist das Reich Gottes. Dieses ist zuerst zu suchen (Mt 6,33), dieses hat Vorrang vor allem übrigen, auch vor den persönlichen Sicherheiten. Luther sagt - vereinfacht ausgedrückt: Christus ist mein Hoherpriester und mein König, der mich rechtfertigt und durch den Glauben sicher macht, daß ich ihm gehöre. Calvin deutet an und Barth führt aus: Und er ist mein Profet, der mich aussendet, damit ich nicht mehr auf mich selbst sehe, sondern mich auf den Weg begebe und Zeugnis darüber ablege, daß er geopfert wurde, auferstanden ist und regiert, so daß alles bereit ist (Lk 14.17).
Ist Barths Konzeption glaubwürdig? Für mich ist sie es im wesentlichen. Möglicherweise deshalb, weil ich einer seiner letzten direkten Schüler bin. Ich studierte bei ihm in Basel von 1947 bis 1948. Er hat damals großen Einfluß auf mich ausgeübt, und einige seiner Akzentsetzungen begleiteten mich mein ganzes Leben lang. Ich habe freilich auch Fragezeichen, zum Beispiel: Ist es wirklich so, daß erst Christus - der Profet - dem Menschen das Werk Christi - des Priesters und Königs - vermittelt und gebracht hat? Was. wenn das profetische Amt noch eine andere, selbständige Aufgabe und noch einen anderen Sinn hat? Die Klärung dieser Frage muß jedoch der biblischen Analyse in einem weiteren Pragraphen vorbehalten bleiben.
Fassen wir am Schluß alles in einer kurzen Übersicht zusammen: Man kann sagen, daß alle drei, Profet, Priester und König das Volk repräsentieren, auch wenn das jeder auf andere Weise tut.
Wichtig ist, daß die Kirche als Christi Leib gleichzeitig Raum und Werkzeug ist, in der und durch die Christus sein profetisches, priesterliches und königliches Amt ausübt. Keines dieser Ämter darf zum Eigentum eines einzelnen oder einer Gruppierung innerhalb der Kirche werden. Sicher gibt es Grenzsituationen und Ausnahmefälle wie etwa der Rechtsstreit von Magister Jan Hus auf dem Konstanzer Konzil. Aber auch Hus war auf dem Konzil Vertreter der Kirche. Er, der Vertreter der Kirche des Kreuzes und des Dienstes, stand dem Konzil gegenüber, das die Kirche der Herrschaft und der Macht vertrat. Aber eines bleibt klar: Christus ist weiter wirksam durch seinen ganzen Leib (1.Kor 12,27; Eph 1,23). Diese Kirche, der Leib Christi, kann bestenfalls eine Person aus ihrer Mitte delegieren, damit diese ein Amt professionell ausübt, aber der eigentliche Profet, Priester und König bleibt Christus selbst, und wer ihn ersetzen und so eigentlich beiseiteschieben und ausschalten will, beeinträchtigt sein gutes Werk für uns und mit uns.
Zuerst ist zu sagen, daß die Lehre vom dreifachen Amt Christi gut biblisch ist. Sie ist aus dem Alten und Neuen Testament zu belegen. Der wichtigste Anhaltspunkt im Alten Testament ist die Tatsache, daß im alten Israel eben nur die Träger der erwähnten drei Ämter bei der Einsetzung gesalbt wurden (siehe § 4). Auch das Neue Testament stellt Jesus als Christus, also als Gesalbten dar, indem es von ihm bekennt, daß er König, Priester und Profet als Gesetzgeber im Sinne eines neuen Mose ist. Sehen wir uns nun das Zeugnis des Neuen Testaments näher an, nachdem der alttestamentliche Stoff schon dargestellt wurde.
Am deutlichsten ist das Zeugnis über das Amt des Königs. Schon die Weisen aus dem Morgenland fragen nach einem neu geborenen König der Juden (Mt 2,2). Nathanael bekennt Jesus als König (Joh 1,49), seine Zuhörer wollen ihn zum König proklamieren (Joh 6,15). Als König zieht er in Jerusalem ein und wird dort als solcher empfangen (Mt 21,5; Mk 11,10; Lk 19,18; Joh 12,13). Um den Anspruch, König zu sein, geht es im Prozeß Jesu und bei seiner Verurteilung (Mt 27,11-42; Mk 15,2-32; Lk 23.37f; Joh 18,37 - 19,21). Der apostolischen Gemeinde wird vorgeworfen, daß sie Jesus zum König hat und nicht den Kaiser (Apg 17,7), und auch das letzte biblische Buch, die Offenbarung, bekennt, daß Jesus der König der Könige ist (Offb 1,5; 17,14; 19,16). Königstitel und -amt sind bei Jesus am wenigsten bestritten.
Jesu Priestertum dagegen wird von den Evangelien nicht direkt ausgeführt. Der Hebräerbrief beschäftigt sich jedoch ausführlich mit ihm (3,1; 4,14; 5,5.10; 6,20; 7,26; 8,1; 9,11; 10,21). Indirekt ergibt sich sein Priestertum auch aus Stellen, in denen von seinem Opfer gesprochen wird, weil der Opfernde selbstverständlich Priester ist. Außer im Hebräerbrief wird es ausdrücklich noch in 1.Kor 5,7 erwähnt: "auch wir haben ein Passalamm, das ist Christus, der geopfert ist"; und Eph 5,2: "...wie auch Christus uns geliebt hat und hat sich selbst für uns gegeben als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch."
Jesu Profetenamt ist umstritten. Wir haben schon erwähnt, daß Luther nur von zwei Ämtern Christi gesprochen hat, während die reformierte Tradition von drei Ämtern spricht und zudem das prophetische besonders betont. Auch biblisch ist die Sache komplizierter als bei König und Priester. Es kann daher nicht schaden, wenn wir uns diese Frage einmal genauer ansehen.
Im Neuen Testament wird oft über Profezeien und über Profeten gesprochen. Von Jesus wird jedoch niemals gesagt, er habe geweissagt. Das ist begreiflich. Sein Wort ist mehr als jede alttestamentliche Profezeiung. Nach Jesu eigener Aussage war der letzte Profet Johannes der Täufer (Mt 11.11-13). Wenn Jesus das Evangelium verkündet, geht es um etwas anderes - um den Anbruch des neuen Äons, oder zumindest um seinen Einbruch in das sündige und vergehende Weltzeitalter. So haben wir es bei Jesu Verkündigung eher mit der Erfüllung aller Profetie des Alten Testaments zu tun, sie begründet einen neuen Bund und ein neues Zeitalter, das nun auf der Erde anbricht. In Jesus steht jemand vor uns, der mehr ist als ein Profet, allerdings auch mehr als irgendein König oder Hoherpriester. Alle diese Ämter gehen auf den über, den die Schrift Gottes Sohn nennt - den Erstgeborenen (Joh 1,18; 3,16.18; 1.Joh 4,9).
Aber das bedeutet nicht, daß Jesus sich von den Profeten und ihrer Aufgabe oder ihrem Amt distanziert. Im Gegenteil, äußerlich gesehen kommt er in der Gestalt eines Wanderprofeten, nicht in der eines Königs oder Hohenpriesters. Seine Hörer halten ihn - natürlich aufgrund seiner Lebensweise und seines Auftretens in der Öffentlichkeit - üblicherweise für einen Profeten (Mt 16,14; Mk 8,28; Lk 9,19; ebenso Mk 6,15; Lk 9,8), manchmal sogar für "den Profeten" (Lk 7,16), nämlich für den erwarteten Profeten, den neuen Mose nach Dtn 18,15. Jesus lehnt diese Ansicht nicht ausdrücklich ab, stimmt ihr freilich auch nicht zu. So bekennt ihn die Samaritanerin als Profeten (Joh 4,9) und auch der geheilte Blindgeborene (Joh 9,17).
Warum nimmt Jesus nicht zu diesen Erwartungen Stellung, wenn diese doch nicht ganz von der Hand zu weisen sind? Diejenigen, die Jesus für einen Profeten halten, bekennen, daß sie einen von Gott selbst Gesandten in ihm sehen, der mit besonderer Vollmacht ausgestattet ist. Andererseits ist dies aber keine sehr genaue und in die Tiefe gehende Auskunft. Sie bleibt am Äußeren haften und dringt nicht zum Kern vor. Am deutlichsten wird dies beim Petrusbekenntnis (Mt 16,13-17): Die Erkenntnis des Petrus, daß Jesus der Christus sei, der Sohn des lebendigen Gottes, tritt hier in Gegensatz zur Ansicht derer steht, die ihn nur für einen Profeten halten.
Jesus selbst nimmt allerdings des öfteren die Rolle eines Profeten an, wenngleich indirekt. So erweist er sich in den Augen der Menschen in seiner Umgebung als Profet, wenn er erkennt, was für eine Frau ihn angerührt hat (Lk 7,39). Oder wenn er Jerusalem eine Mörderin der Profeten nennt (Lk 13,33; Mt 23,30-37; Lk 11,47-51; Apg 7,52) und dabei seinen bevorstehenden Tod in Jerusalem meint. Er bezieht auch das Sprichwort auf sich, wonach ein Profet in seinem Vaterland nichts gilt (Mt 13,57; vgl. Joh 4,44). Und auf derselben Grenze zur profetischen Aufgabe oder zum profetischen Amt liegt die Ankündigung des Gnadenjahres (Jes 42,7; 61,1f; vgl. Lk 4,17-21), welche ihn zwar einerseits mit dem Profeten Jesaja identifiziert, andererseits aber mit dem, der das neue Zeitalter heraufführt.
Das ist jedoch alles nur eine Art Vorspiel und eine Vorschau auf das, was das Neue Testament von Profeten sagt. Zentrale Bedeutung für die Beziehung Jesu zum Profetenamt oder zur Sendung eines Profeten hat der Abschnitt über seine Verklärung auf dem Berg, die in allen drei synoptischen Evangelien enthalten und somit offenbar großes Gewicht hat (Mt 17,3-7; Mk 9,1-9; Lk 9,30-33). Dort zeigt sich Jesus den Jüngern in verherrlichter Gestalt und gleichzeitig mit ihm erscheinen zwei der bedeutendsten Profeten des Alten Testaments, Mose und Elia. Es ist wichtig und ganz selbstverständlich, daß Mose hier zugleich das Gesetz repräsentiert, also die fünf Bücher Mose, den ersten und heiligsten Teil des hebräischen Kanon. Elia vertritt die Gesamtheit der Profeten, zu denen im hebräischen Kanon allerdings nicht nur unsere Schriftprofeten gehören (mit Ausnahme des Buches Daniel), sondern auch ein Teil der Geschichtsbücher - Josua, Richter sowie die Bücher Samuel und Könige, wo von Elia als dem bedeutendsten aller Profeten erzählt wird.
Zwischen Jesus, Mose und Elia gibt es eine Reihe wichtiger Beziehungen. Mose ist nach Ex 24,1-11, besonders V. 8, der Mittler des Bundes Gottes mit Israel, Jesus dann nach Mk 14,24 Mittler des Neuen Bundes. Die Einsetzung des Abendmahls in Mk 14,24 knüpft direkt an Ex 24,8 an, beidesmal geht es um das Blut des Bundes. Mose empfängt von Gott das Gesetz, genauer die 10 Gebote, auf dem Berg Sinai (Ex 19,20). Jesus verkündet sein neues "Gesetz" auch auf einem Berg (Mt 5,1). Dort stellt er sich auch ausdrücklich als neuer Gesetzgeber vor, der das alte und das neue Gebot einander gegenüberstellt (Mt 5,21-48). Seinen Jüngern gibt er das neue Gebot der Liebe (Joh 13,34; 1 Joh 4,21; vgl. die dialektische Exegese dieses Wortes in 1 Joh 2,7-8 und 2 Joh 1,5). Eine enge Beziehung zwischen Jesus und Mose wird ferner durch die apostolische Predigt in Apg 3,22-26 belegt, die an die Verheißung eines "neuen Profeten" in Dtn 18,15 anknüpft.[30]
Eine ähnlich enge Beziehung hat Jesus auch zu Elia. Elia ist der Verkünder und Wegbereiter des neuen Zeitalters (Mal 3,23), seine Wunder sind Beleg dafür, daß Gott kommt und eingreift, und so sind sie eine Vorschau, ja eine Vorwegnahme ähnlich wie Jesu Wunder. Am deutlichsten zeigt sich das darin, daß beide die Macht des Todes besiegen. Beide erwecken den Sohn einer Witwe (1 Kön 17,17-24; Lk 4,26). Aber es gibt auch noch andere wichtige Analogien zwischen Jesus, Mose und Elia. Um der Übersicht willen, fassen wir sie in drei Punkte zusammen:
a) Alle drei leben gefährlich. Mose wäre beinahe durch das aufrührerische Volk gesteinigt worden (Ex 17,4; Num 14,1-5.10). Elia lebt auf der Flucht vor dem König Ahab (1 Kön 17) und sogar noch nach dem Sieg auf dem Karmel (1 Kön 18) muß er erneut vor der Königin Isebel fliehen, um das nackte Leben zu retten (1 Kö 19). Er flieht gerade an den Ort, an dem auch Mose sich aufgehalten hatte.
b) Mose und Elia bieten Gott für Israel ihr Leben an, Jesus gibt es dann tatsächlich hin. Mose spricht zu Gott, nachdem sich das Volkes mit dem goldenen Kalb oder Stier (Ex 32,32) versündigt hat: "Vergib ihnen doch ihre Sünde; wenn nicht, dann tilge mich aus deinem Buch, das du geschrieben hast." Es geht selbstverständlich um das Buch, in dem bei Gott die Namen der Lebenden geschrieben sind. Gott nimmt das Angebot Moses zwar nicht an, aber auch so erscheint Mose hier in einem Licht, das ihn in der Verklärungsgeschichte in die Nähe des Verherrlichten rückt. Auf ähnliche Weise bietet Elia sein Leben an, genauer: er setzt es im Duell mit den Baalsprofeten aufs Spiel, als er Ahab das Gottesurteil auf dem Berg Karmel vorschlägt (1 Kön 18,16-25). Auch Elia verliert sein Leben am Ende nicht, aber auch er tritt doch auf dem Berg der Verklärung an die Seite Jesu. Vielleicht ist es lohnenswert, hier noch an ein ähnliches Bekenntnis des Apostels Paulus zu erinnern: "Ich selber wünschte, verflucht ... zu sein für meine Brüder" (Röm 9,3)
c) Das Lebensende von Mose und Elia ist von Geheimnissen umhüllt. Klar ist in beiden Fällen nur, daß Gott auf wunderbare Weise eingegriffen hat.
Mose stirbt zwar auf dem Berg Nebo eines natürlichen Todes, doch die geheimnisvolle Notiz "er begrub ihn" (Dtn 43,6), ohne Angabe der handelnden Person, verbirgt mehr als sie sagt. Der Leser fragt: Wer hat ihn begraben? Gott selbst? Stünde hier der Plural, wäre es klar, daß die Israeliten gemeint sind, aber im Text steht der Singular. Seit alter Zeit wurde die geheimnisvolle Wendung als Andeutung dafür verstanden, daß nach seinem Tod gute und böse Mächte um den Moses Leib kämpfen, wie eine kurze Bemerkung in Judas 1,9 behauptet: "Als aber Michael, der Erzengel, mit dem Teufel stritt und mit ihm rechtete um den Leichnam des Mose, wagte er nicht, über ihn ein Verdammungsurteil zu fällen." .Klar ist lediglich, daß Gott irgendwie dabei war.
Elia fuhr in einem Feuerwagen zum Himmel (2 Kön 2,11). Dies wurde später Ausgangspunkt der bedeutenden Strömung der Kabbala, die mit Hilfe des "Werkes des Wagens" (hebräisch: ma'asa merkaba) einen ähnlichen Weg in den Himmel öffnen und vermitteln wollte. Auch Elias Verscheiden wurde oft und unterschiedlich ausgelegt, aber eines ist wieder sicher: Gott ist hier auf einzigartige Weise am Werk. Und auf einzigartige Weise am Werk ist er auch am Ostermorgen, dem Tag der Auferstehung des Sohnes.
Dies alles erlaubt im Blick auf Jesu Beziehung zum profetischen Amt den Schluß: Zwei wesentliche Charakteristika des Auftretens Jesu, seine Heilungswunder und sein Leiden in der Konsequenz seiner Predigt, begegnen uns im Alten Testament nur bei den Profeten, nicht im Zusammenhang mit dem König oder dem Priester. Und Jesus knüpft an diese Elemente explizit an. Es ist also durchaus berechtigt, daß die reformierte Tradition das profetische Amt Christi hervorhebt, manchmal, wie etwa bei Barth, sogar besonderen Nachdruck darauf legt. Der Profet bringt die Offenbarung, der Priester die Versöhnung und der neue König die Herrschaft Gottes.
Sehen wir uns die ganze Sache noch von einer anderen Seite an, vom Gesichtspunkt der alttestamentlichen Verheißungen: In ihnen ist belegt, daß der neue Profet, König und Priester vorausgesehen und erwartet wurde.
Über den zu erwartenden König spricht Sach 9,9 wahrscheinlich am deutlichsten: "Du Tochter Zion freue dich sehr, und du Tochter Jerusalem jauchze; siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, erniedrigt und reitend auf einem Esel und auf dem Füllen der Eselin". Mit seinem Einzug in Jerusalem ruft Jesus offenbar allen diese Bibelstelle ins Gedächtnis. Mit einem zukünftigen König verbinden sich auch die Profetenworte, die vom erneuten Kommen Davids oder vom neuen David sprechen (Jes 9,6; 16,9; Jer 23,5; 33,15.21f; Hes 24,23f; 37,24f; Am 9,11). Das eindrucksvollste Wort über den zu erwartenden Profeten steht in Dtn 18,15.18. Der kommende Profet wird nicht irgendein Beliebiger sein, sondern der neue Mose. Neben dem Kommen bzw. der Wiederkehr des Mose wurde freilich auch die Wiederkehr von Elia erwartet (Mal 3,23). Aber Elia identifiziert Jesus bereits ausdrücklich mit Johannes dem Täufer (Mt 11,14).
Die Erwartung eines neuen Priesters ist im Alten Testament am wenigsten deutlich. Das levitische Priestertum war im Tempel wirksam - bereits während der Königszeit, dann wieder nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft und Erneuerung des Tempels bis hin zu seiner Zerstörung im Jahr 70 n. Chr. durch die Römer. Aber schon das Alte Testament kennt noch ein anderes Priestertum. Der wichtigste Beleg dafür ist Ps 110.4: "Du bist ein Priester ewiglich nach der Ordnung Melchisedeks." Man könnte auch übersetzen: "Du bist ein Priester ewiglich nach meinem Ausspruch, Melchisedek" - also ein neuer oder rechter Melchisedek. Aber auch diese Übersetzung ist möglich: "Du bist Priester ewiglich, nach meinem Ausspruch bist du selbst Melchisedek". Wie wir diese Stelle auch immer übersetzen, sie weist entschieden über sich hinaus in die Zukunft, auf eine spätere Erfüllung. Daran ändern auch eine Reihe von Auslegern nichts, die diesen Psalm auf den davidischen König beziehen. Es ist gut möglich, daß er in dem Augenblick bzw. in der Zeit, als er zum erstenmal erklang, auf eine konkretere historische Situation gerichtet war, als es uns heute erscheint. Aber der gesamtbiblische Kontext, in den dieser Psalm durch die Kanonisierung gelangt ist, hat ihm einen Sinn gegeben, der die historischen Zusammenhänge seiner Entstehung übersteigt, für uns heute übrigens kaum genauer feststellbar. Anders gesagt: Dieser Psalm oder Ausspruch ist vom Beginn seiner Entstehung an in eine große eschatologische Perspektive hineingewachsen. Und von dort hat ihn der Hebräerbrief übernommen und entfaltet. Trotzdem, auch wenn wir so nüchtern wie möglich beim Text des Psalms selbst bleiben, bleibt zweierlei klar: Erstens hat der hier Angesprochene nach Gottes Entscheidung eine priesterliche Funktion, und zweitens ist diese Verheißung im Rahmen des Alten Testaments nach allem, was wir bisher wissen, unerfüllt geblieben. Die Epoche des priesterlichen Königtums der Makkabäer, das übrigens levitischen Ursprungs war, hat durch ihr trauriges Ende gezeigt, daß das Wort aus Ps 110 im Rahmen der Geschichte Israels zumindest eine offene unbeantwortete Frage geblieben ist.
Fassen wir das Ergebnis zusammen: Der erwartete König ist der neue David, der erwartete Profet ist der neue Mose, der erwartete Priester ist der neue Melchisedek. So ist das Alte Testament selbst offen im Blick auf eine neue Hoffnung, wie schon Gerhard von Rad betont hat und wie wir es in § 11 erklärt haben.
Abschließend: Auch wenn die drei Rollen, die königliche, die priesterliche und die profetische, selbstverständlich nicht alle Funktionen und Titel Jesu erschöpfend zum Ausdruck bringen (denken wir an den Hirten, den Richter im letzten Gericht, den Weingärtner, der seinen Weinberg bewahrt usw.), läßt sich doch sagen, daß sie die wesentlichen Tätigkeiten Jesu zusammenfassen. Die übrigen Titel, Ämter, Funktionen oder Rollen gehen in diese drei über, betonen in ihnen einzelne Aspekte oder beschreiben besondere Tätigkeiten, die er jedoch oft gerade als Bestandteil seiner Funktion als König, Priester und Profet ausübt. Ich bin also der Meinung, daß wir die Lehre vom dreifachen Amt - lateinisch: triplex munus Christi - für eine verhältnismäßig gelungene Erfassung des Werkes des Messias halten können.
Der erste Mangel besteht darin, daß bei unrichtiger und unerwünschter Verschiebung des Nachdrucks vom lebendigen Jesus auf seine Funktionen, Titel oder Rollen, aus dem auferstandenen und lebendigen Herrn, eine Art dogmatisches Schema werden kann, daß die persönlichen dynamischen Beziehungen zu Christus und zu Gott behindert und anstelle ihrer statische Strukturen einführt, seien sie auch biblisch begründet, gut durchdacht und pädagogisch anschaulich. Dem wollte vor allem Luther wehren, indem er sich bemühte, so konsequent wie möglich von der Person auszugehen, und das Werk Jesu Chisti und seine Ämter diesem Gesichtspunkt unterzuordnen. Sein Weg war freilich ein Weg vom Neuen zum Alten Testament. Und so kommt in seiner Sicht des Alten Testaments nur das zu Wort, was solche neutestamentliche Perspektive zum Inhalt hat. Wir haben uns demgegenüber vorwiegend bemüht, den anderen Weg zu gehen, das Alte Testament zu fragen, wieweit es uns führt, wenn wir es nach Christus fragen.
Aber die Gefahr der Schematisierung lauert eigentlich über der Schrift immer auf uns, worüber wir auch sprechen, was immer wir versuchen zusammenzufassen und zu klassifizieren. Manchmal ist es nötig zu vereinfachen. Wir müssen jedoch immer beachten und wissen, daß unsere Gliederungen und Zusammenfassungen nur Versuche sind, die wir möglicherweise schon morgen wieder verwerfen, wenn wir von oben neu angesprochen werden oder ein neues Geschenk durch den Heiligen Geist erhalten. Anders gesagt: Die Schrift muß immer neu ausgelegt werden. Alles Systematisieren der biblischen Botschaft hat nur vorläufigen, dienenden Charakter. Eine neue Zeit, neue Fragen und neue Aufgaben führen uns zu neuen Gesichtspunkten und vielleicht zu neuer Einteilung des Stoffes.
Jemand könnte hier fragen, ob diese Zeit nicht schon begonnen hat und ob auch die Lehre vom dreifachen Amt Christi nicht auch ein wenig von der Zeit geprägt ist, für die sie erarbeitet und in der sie benutzt wurde. Das würde nicht bedeuten, daß sie schlecht wäre, nur daß unsere Auslegungsarbeit eben nicht zuende ist und daß wir auch heute noch versuchen müssen, das Werk Jesu Christi, seine alttestamentlichen Voraussetzungen und seine Vorbereitung zu begreifen - immer wieder neu, möglichst noch ein wenig genauer und sachgemäßer und zugleich verständlicher für die heutige Zeit.
Und damit sind wir beim zweiten Mangel der Lehre vom dreifachen Amt Christi, oder vielleicht behutsamer und besser: bei einem weiteren Problem. Ich bin überzeugt, daß diese Lehre, wie die christliche Tradition sie uns erhalten hat, dem heutigen Hörer oder Leser die Erniedrigung Christi nicht deutlich genug vor Augen stellt, daß es für sie schwierig wird, eine Theologie des Kreuzes (lateinisch: theologia crucis - im Gegensatz zur theologia gloriae) zu vermitteln.
Schon ältere Theologen sprachen lieber von den beiden Ständen Christi, dem Stand der Erniedrigung und dem Stand der Erhöhung. König, Priester und Profet betonen zu einseitig den Stand der Erhöhung, der Überordnung und der Herrschaft. Es ist begreiflich, daß die Kirche in der Vergangenheit Christus vor allem in dieser Perspektive sah. Das ganze Mittelalter und einen bedeutenden Teil der Neuzeit hindurch hatte die Kirche mehr oder weniger eine herrschende Position - durch die christliche Obrigkeit, auf die sie Einfluß hatte, und durch den christlich verfaßten und begründeten Staat. Es war nötig zu betonen, daß über aller Obrigkeit, der kirchlichen und der weltlichen, ein höchster König steht, der König der Könige, ein Hoherpriester und der höchste Gesetzgeber oder Profet, damit keiner Regierenden vergißt, er sie selbst einem noch höheren Herrscher verantwortlich ist. So scheint es, als stünde im Hintergrund der Lehre vom dreifachen Amt vielleicht auch nur insgeheim, die Vorstellung des Christus Pantokrator, eines Allherrschers, wie wir ihn auch von orthodoxen Ikonen und aus altchristlichen Hymnen kennen. Christus thront in der Höhe, so hoch erhöht, daß der Mensch aus seinem Elend kaum zu ihm aufblicken kann. Und wenn Christus denn so weit vom Menschen entfernt ist, wird es nötig, daß die von der hierarchischen Ordnung des Feudalismus geprägte Frömmigkeit einen weiteren Mittler bekommt. Sie ist nun nicht mehr auf Christus gerichtet, sondern wendet sich der Jungfrau Maria, den Heiligen, den Sakramenten und anderen heiligen Handlungen zu, die die Priesterschaft verrichtet. ALLES ist hierarchisch strukturiert, die Gesellschaft, die Kirche und auch das Denken der Menschen in jener Zeit.
Heute ist die Situation merklich anders. In den Staaten, in denen die Bedeutung der christlichen Tradition offiziell anerkannt ist und in denen die Kirche wenigstens in der Öffentlichkeit in Ehren gehalten wird, ist gerade die Kirche - wenn wir an die denken, die in ihr wirklich geistlich leben - eine deutliche Minderheit. Sie ist nicht auf äußere Macht gestützt, zumindest bei weitem nicht in dem Maße wie im Mittelalter. Sie hatte besonders während des kommunistischen Regimes mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, und auch nach dessen Sturz hat sie nicht die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung, zumindest nicht in den durch die westliche Zivilisation, die technische Entwicklung und die liberale Kulturtradition beherrschten Gebieten.
Die Frage drängt sich auf: Ist nicht der erhöhte Christus, wie die Kirche ständig von ihm redet, von den Menschen allzu weit entfernt? Die Menschen, die die Kirche ansprechen will, haben meist genug andere neben sich und oft auch über sich, die sich selbst erhöhen und befehlen wollen. Die Demut ist ein knappes Gut. Nur wenige gibt es, die bereit sind, menschliches Leiden zu tragen oder wenigstens irgendwie mitzutragen. Gibt es einen, der mit uns leidet?
Wenn wir Gott nur als Gott im Himmel und Christus nur als Erhöhten verkündigen, werden uns die Leute fragen, und wieviele fragen jetzt schon: Wo war dieser, euer Gott, als in den Kriegen und besonders in dem letzten beiden Weltkriegen Millionen Menschen getötet wurden, als in den Konzentrationslagern auch Kinder in die Gaskammer geschickt wurden? Und wo ist er heute, wenn sich in den Strömungen des rasend gewordenen Hasses ganze Völker gegenseitig hinmorden? Wo war er damals, und wo ist er heute, dieser euer Gott?
Von der biblischen Botschaft her ist die Antwort klar. Es geht nur darum, daß wir genug Mut bekommen, diese Antwort auszusprechen, offen, direkt und unverhüllt. Er war und ist mit den Gefolterten und Hingerichteten, mit den Leidenden und Verlorenen. Er ist mit ihnen am Kreuz, er ist mit ihnen unter ihrem Kreuz. Vom Kreuz aus ist er ihnen allen sehr nahe. Daß er ihnen nicht geholfen hat und nicht hilft? Wahrscheinlich nicht so, wie wir uns das wünschen und vorstellen, nämlich, daß er sofort hilft, daß er, was wir selbst ihm als Last auflegen, gleich bezahlt und in der Währung, die wir selbst wählen und die uns gefällt, in der Gestalt dessen, was wir uns entschieden haben, Glück zu nennen. Es ist komplizierter. Wir Christen glauben zwar mit dem Apostel, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten dienen (Röm 8,28). Aber wann und wie, das behält er sich selbst vor. Nichtsdestoweniger ist eines sicher: In der heutigen kaputten und kranken Welt ist es nötig, vor allem den erniedrigten Christus zu verkünden, der mit uns ist in unserer Not, der uns nahe ist, ob wir es wissen oder nicht, ob wir ihn anerkennen oder nicht. Hüten wir uns vor einer vorschnellen und nicht zeitgemäßen theologia gloriae! Solange wir nicht weinen mit den weinenden, muß ihnen unser geistlicher Jubel wie Hohn erscheinen.
Im Gegensatz zur theologiea gloriae steht die theologia crucis, die besagt: Vor allem auf den erniedrigten und gekreuzigten Christus sehen! Der Weg vorwärts und nach oben führt nur über sein Kreuz. Und da sind wir beim Kern der Sache: Wie die alte, schöne Lehre vom dreifachen Amt Christi abwandeln, daß sie nicht zum Ausgangspunkt für eine theologia gloriae werden kann, sondern einzig und allein für eine theologia crucis? Darauf versuchen wir in einem weiteren Kapitel zu antworten.
Und jetzt ist dieser Erniedrigte - und gerade, weil er sich erniedrigte - erhöht: Darum hat ihn Gott über alles erhöht und ihm einen Namen über alle Namen gegeben, daß sich alle vor ihm beugen und bekennen: Jesus Christus ist der Herr! Der erhöhte Herr ist also kein anderer als der erniedrigte Knecht. Wenn jedoch König, Priester und Gesetzgeber den Blick eher für Jesus den Herrn öffnen, entsteht die Frage: Ist es möglich, die Lehre vom dreifachen Amt Christi so zu verändern, daß darin am deutlichsten gerade die Erniedrigung Christi zu Wort kommt, d.h. daß er in unserem Leid mit uns ist? Versuchen wir es.
Das Gegenstück des Priesters ist natürlich das Opfer, das dargebracht wird. Die alttestamentliche Opferordnung kennt zwar verschiedene Arten der Opfer und Opfergaben, verschieden hinsichtlich dessen, wann, wie und warum und auch was geopfert wird. Der Hauptteil der Opfergesetze steht in Lev 1-7, einige Ergänzungen besonders im Deuteronomium. Wenn wir jedoch versuchen, die Opferordnung als ganze in den Blick zu nehmen, zeigt sich ziemlich schnell und eindeutig, daß das sehr alte klassische Grundopfer das Lamm ist. Das belegt nur durch die Statistik, also die Häufigkeit, mit der es bei verschiedenen Gelegenheiten geopfert wurde, sondern die Tatsache, daß Darbringung des Osterlammes der älteste und grundlegende Gottesdienst Israels war. Daß er der älteste war, wird übereinstimmend vom geschichtlichen und literarhistorischen Gesichtspunkt behauptet. Das ist kein Zufall. Er erinnert an die Befreiung aus Ägypten, also an das Ereignis, durch das sich Israel als Volk eigentlich erst konstituiert hat und an das es sich immer wieder erinnerte. Und gerade an dieses Oster- oder Passalamm knüpft das Neue Testament an, wenn es das Erlösungswerk Christi beschreibt. Im ursprünglichen griechischen Wortlaut des Neuen Testaments werden dabei verschiedene Wörter gebraucht, die wir nun näher betrachten wollen.
Da ist vor allem der Ausdruck amnos = Lamm. Er kommt nur viermal im Neuen Testament vor, immer auf Jesus Christus bezogen. Joh 1,29.36: "Das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt"; dann Apg 8,32 (es geht um ein Zitat aus Jes 53,7f): "Wie ein Lamm zum Schlachten geführt, wie ein Lamm, stumm vor seinem Scherer"; und schließlich 1.Pe 1,19: "Ihr seid nicht mit Gold und Silber erkauft, sondern mit dem teueren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes".
In der Johannesoffenbarung wird Christus 28mal arnion = Lämmlein genannt. Ob dieses Wort die diminutive Bedeutung auch noch im hellenistischen Griechisch hatte, ist unter den Fachleuten umstritten. Nach der Offenbarung Johannes geht es um das erwürgte Lamm - vielleicht trägt es am Hals eine Wunde von der Schlachtung oder die Wunden nach der Kreuzigung (Offb 5.6.9.12; 13.8). Es hat sein Blut vergossen zur Vergebung der Sünden (Offb 5,9; 7,14; 12,11). Es hat den Tod überwunden hat Macht (Offb 5,5-6). Es sieht auch alles, das wird durch die sieben Augen angedeutet (Offb 5,6). Vom Berg Zion aus herrscht es und richtet die ganze Welt (Offb 14,1), es ist König der Könige und Herr aller Herren (Offb 17,14; 19,16). Es feiert Hochzeit mit seiner Braut (Offb 19,9) und teilt mit Gott dessen Thron (Offb 22,1.3).
Woher stammt aber das Bild vom Heiland als dem Lamm? Darüber schreibt Joachim Jeremias (ThWzNT I,342ff). Er sagt, daß dieses Bild im späteren Judentum unbekannt ist. Die einzige Ausnahme bildet ein Textabschnitt im Testament der Zwölf Patriarchen. Das ist ein verhältnismäßig später Pseudepigraph, ursprünglich auf Griechisch geschrieben. Im Testament des Josef 19,8 heißt es: "Ich sah zwischen den Hörnern eine Jungfrau, die trug ein buntes Kleid, aus ihr kam ein Lamm..." Aber die Fachleute halten diese Stelle für einen späteren christlichen Einschub, am ehesten für einen Nachklang von Offb 12,1-8.
Wenn das Bild vom Lamm nicht aus jüdischer Tradition stammt, woher dann? Nach J. Jeremias kommen drei Quellen in Frage:
1. Die erste ist Jes 53,7: "Er wurde wie ein Lamm zum Schlachten geführt." Wir haben die Stelle schon zitiert. Philippus bezieht sie auf Jesus (Apg 8,32). Das beweist, daß schon die apostolische kirche in Christus das Lamm aus Jesaja sah.
2. Sie hatte dazu guten Grund: Jesus hatte sich bei der Abendmahlsfeier selbst mit dem Osterlamm identifiziert. Das Brot ist dort zweifellos ein Bild des Leibes des Osterlamms, das sterben mußte, damit Israel am Leben bleiben und aus Ägypten ausziehen konnte, also aus dem Reich der Finsternis und Sünde. Daran knüpft in den Briefen besonders 1.Kor 5,7 an: "unser Osterlamm, für uns geopfert, Christus." Für 'Osterlamm' steht im Griechischen 'pascha', es ist also der ganz charakteristische, aus Ex 12 bekannte Ausdruck . Weiter 1.Pe 1,19: "Ihr seid erkauft mit dem teuren Blut des unschuldigen und unbefleckten Lammes, Christus". In beiden Zitaten geht es selbstverständlich darum, daß das Osterlamm, dessen Blut auf die Türpfosten gestrichen wurde, sterben mußte, damit die, die es geopfert hatten, am Leben blieben. So erhellt uns das Neue Testament die Tragweite und Bedeutung des Todes Christi aus dem eigentlichen Kern der Botschaft des Alten Testaments.
3. Für die dritte Quelle hält Jeremias das Bekenntnis Johannes des Täufers in Joh 1,29.36. Einige Neutestamentler halten es für eine spätere Bildung der Urkirche, Johannes dem Täufer erst sekundär zugeschrieben. Jeremias verweist jedoch auf seinen ursprünglichen, zweifellos aramäischen Wortlaut: taljá deláhá, was im Aramäischen zweierlei Bedeutung hat. Einmal kann man übersetzen "Knecht Gottes" nach Jes 53. Das war ursprünglich wahrscheinlich die Meinung des Täufers. Das Wörtchen taljá bedeutet im Aramäischen aber gleichzeitig "Lamm". Bei der Entstehung des griechischen Textes wurde es dadurch möglich, "Gottes Lamm" oder "Gottes Lämmlein" zu übersetzen und so die Szene von der Taufe Jesu mit der Einsetzung des letzten Abendmahls zu verbinden. Jeremias schließt: "Wenn die Kirche Christus das Lamm nennt, drückt sie damit dreierlei aus: 1. seine Geduld (Apg 8,32), 2. seine Unschuld (vgl. Ex 12,5 - ohne Fehler; 1.Pe 1,19 unschuldig), 3. die Versöhnungsbedeutung seines Opfers (ausgesprochen in Joh 1,29; 1.Pe 1,19, indirekt durch den Ausdruck pascha in 1.Kor 5,7). Sein Tod und seine Auferstehung sind der Beginn eines neuen Zeitalters (1.Pe 1,20). Deshalb bringt dieses Lamm Gottes nicht nur Israel das Heil, sondern allen, die es annehmen.
Fassen wir also zusammen: Setzen wir an die Stelle des Opfernden das Opfer, also an die Stelle des Priesters das Lamm. wird vieles klarer. Von den komplizierten Auslegungen des Hebräerbriefes sind wir hier ins Zentrum der neutestamentlichen Botschaft gelangt. Das Osterlamm gehört zu den Grundtatsachen des Alten Testaments, die uns besonders deutlich auf Werk und Bedeutung Jesu Christi hinweisen.
Hebräisch heißt der Knecht 'ebed, die geläufigste griechische Übersetzung ist dulos. So wird Christus im ganzen Neuen Testament jedoch nur einmal genannt und das noch in einer besonderen Wendung, die wir erklären müssen. Es ist Phil 2,7, wo es heißt, daß Christus bei seiner Erniedrigung "die Art eines Knechtes" (Luther: Knechtsgestalt) annahm. Die griechische Wendung lautet morphén dúlú. Morphé ist Form, Ähnlichkeit, Gestalt, Aussehen, Erscheinung. Christus nahm also Knechtsgestalt an. Warum solch ein vorsichtiger Ausdruck? Wahrscheinlich wollte man dadurch irgendwelchen Zweifeln an der Erhöhung Christi zum König zuvorkommen.
Damit wir auf die richtige Spur kommen, müssen wir im Alten Testament beginnen. Das hebräische Wörtchen 'ebed ist ein Ausdruck von sehr vielschichtiger Bedeutung. Er kann die Bezeichnung für einen Sklaven sein, aber auch für einen königlichen Würdenträger. Es kann eine demütige Selbstbezeichnung sein, siehe z.B. 1.Sam 3,9.10: "sprich, denn dein Knecht hört", aber es kann auch ein Titel von hoher Bevollmächtigung sein, wie ihn Mose bekam (Ex 14,31) und sogar der heidnische König Nebukadnezar (Jer 25,9; 27,6; 43,10). Es geht jeweils darum, wem der Knecht dient oder gehört.
Im Neuen Testament finden wir die geläufigste Übersetzung dúlos als Selbstbezeichnung der Apostel, besonders des Apostels Paulus, in der Einleitung zu den Briefen. Sicher will er damit zum Ausdruck bringen, daß er ganz seinem Herrn gehört und als sein Bevollmächtigter spricht. Aber als direkte Bezeichnung Jesu finden wir das Wörtchen dúlos im ganzen Neuen Testament nicht.
Bedeutet das, daß wir also auf einer falschen Spur sind? Sprachlich ja, sachlich nein. In Jes 40-55, in den so genannten Gottesknechtsliedern, wird das hebräische Wörtchen 'ebed anders übersetzt, nämlich mit dem griechischen Wort pais. Das bedeutet wörtlich: Junge, Bursche. So konnte ein Sklave bezeichnet werden. besonders ein junger. Wahrscheinlich benutzte der Herr des Sklaven diesen Ausdruck als Anrede, weil er menschlicher und freundlicher klingt als 'Sklave'. Der Ausdruck hatte jedoch einen Beigeschmack: er bezeichnete einen Menschen, der nicht selbst und nicht voll rechtsfähig ist. Gemeint sein konnte aber auch der Sohn, solange er noch rechtlich dem Vater unterstand. Das Wörtchen pais drückt so eine besondere Nähe zu dem Herrn aus, der ihm entweder freundlich geneigt oder sogar sein Vater ist.
Wie ist das im griechischen Wortlaut, bzw. in der Septuaginta? In einigen biblischen Büchern wird das Wörtchen 'ebed häufiger mit dúlos ins Griechische übersetzt, etwa in den Psalmen. Aber in Jesaja wird es häufiger, ja üblicherweise, mit pais wiedergegeben. Im zweiten Teil des Jesajabuches (Kap 40-66) wird der Ausdruck 'ebed sogar nur dreimal mit dúlos übersetzt: in Jes 48,20. wo es um Jakob geht; in Jes 49,3.5, wo es um Israel geht; und nur uneigentlich gehört noch Jes 63,17 hierher, wo es um einen Plural geht und keineswegs um eine direkte Anrede. An allen anderen Stellen lesen wir pais. Das hat schwerwiegende Konsequenzen.
Fragen wir zuerst, warum die griechischen Übersetzer in den Gottesknechtsliedern dem Wörtchen pais den Vorzug gegeben haben. Ich nehme an, gerade seiner Doppelbedeutung wegen. Es ist fast so, als ob im Ausdruck pais der 'Knecht' in den 'Sohn' hinüberwächst. Die Übersetzer der Septuaginta arbeiteten im 3., spätestens im 2. Jahrhundert vor Christus. Sie hatten also keinen Grund, ihre Messiaserwartung zu verdecken, wie das aus polemischen Gründen in der jüdischen Literatur der christlichen Jahrhunderte geschah.
Daraus folgt: Wenn wir an Jesus als an den Knecht Gottes denken, müssen wir im Neuen Testament vor allem nach dem griechischen Ausdruck pais suchen. Er steht dort im Ganzen 24 mal, davon viermal von Jesus. Gehen wir die betreffenden Stellen durch.
Mt 12,18 ist ein Zitat aus Jes 42,1: "Siehe. das ist mein Knecht, den ich erwählt habe."
Apg 3,13: "Der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs, der Gott unserer Väter, hat seinen Knecht Jesus verherrlicht." Das ist zwar kein direktes Zitat aus dem Alten Testament, knüpft aber in seinem ersten Teil sehr eng an Ex 3,6.15a an, im zweiten Teil an Jes 52,13: "Siehe, meinem Knecht wird es gelingen..."
Apg 3.26: "Für euch zuerst hat Gott seinen Knecht aufgerichtet (so wörtlich nach dem Griechischen, man kann aber auch 'erweckt' oder 'auferweckt' übersetzen) und hat ihn zu euch gesandt, euch zu segnen, daß ein jeder sich bekehre von seiner Bosheit." Auch das ist kein wörtliches Zitat, aber vielleicht ein Anklang an Jes 59,20: "Für Zion wird er als Erlöser kommen und für die in Jakob, die sich von der Sünde abwenden". Am Schluß klingt eine auch aus Jer 18,20; 23,22 und Mal 2,6 bekannte Wendung an.
Die letzte Stelle ist Apg 4,30: "Strecke deine Hand aus, daß Heilungen und Wundertaten geschehen durch den Namen deines heiligen Knechtes Jesus". Auch dieser Ausspruch ist kein direktes Zitat, aber er lehnt sich an an eine bekannte alttestamentliche Wendung (in Ex 7,3, Dtn 4.34:6,22 u.ö.) an, die die Herausführung aus Ägypten beschreibt. In diesem Zusammenhang hören wir es auch noch Apg 7,36 und - bezogen auf die Ereignisse der Endzeit - in Apg 2,19. Die andere Hälfte knüpft durch die Erwähnung des Namens vielleicht frei an Jes 48,9 an: "Um meines Namens willen halte ich zurück mit meinem Zorn." Diese Stelle ist allerdings theologisch sehr bemerkenswert und wichtig: Gott gebraucht hier den Namen seines Knechtes auf eine Weise, wie im Alten Testament gewöhnlich nur der Name Gottes selbst gebraucht wird. Hier haben wir wahrscheinlich den ältesten Beleg für die Wendung, die schon in der apostolischen Kirche und besonders in den Paulusbriefen geläufig war: "um des Namens Jesu Christi willen" oder "durch den Namen Jesu Christi" (vgl. 1.Kor 1,10; 6,11 Eph 5,20; Phil 2,10: 2.Thess 3,6, aber auch schon Joh 1,12; 3,18; 14,13; 15,21). In der Apostelgeschichte ist der Name Jesu Christi dann Chiffre und Kurzbezeichnung seines ganzen Heilswerkes, vgl. Apg 16,18 usw.
Noch gewichtiger als der prägnante Zusammenhang zwischen dem hebräischen 'ebed und dem griechischen pais ist der inhaltliche Nachdruck auf der Beauftragung und dem Werk Jesu Christi. Erinnern wir uns nur an die bekanntesten Stellen. Mt 20,28: "er ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene" (ähnlich Mk 10,45). Lk 22,27: "Ich bin unter euch wie ein Diener." Im Griechischen steht freilich an beiden Stellen das Verb diakonein = bedienen, das ist kein Sklavendienst. Aber eins ist klar: Er ist da für andere, nicht sie für ihn. Und gerade darin folgen ihm alle, die zu ihm gehören.
Fassen wir diesen Abschnitt über den Knecht zusammen: Es ist wichtig, daß es nicht um irgendeinen Knecht geht, von einem Sklaven abstammend oder aus dem Sklavenstand, sondern um den, der sich entschieden hat zum Dienst, obwohl er kein Knecht ist. Am deutlichsten drückt dies der Abschnitt aus Phil 2 aus, den wir schon mehrfach zitiert haben. Denken wir in diesem Zusammenhang auch daran, daß alle neutestamentlichen Stellen, soweit sie nur eine annähernd deutliche alttestamentliche Grundlage haben, sich insgesamt auf die Profezeiung Jesajas stützen, ganz konkret auf die Gottesknechtslieder. Und deren Höhepunkt ist Jes 52,13 - 53,12.
Es ist zu beachten, daß gerade in diesem Abschnitt sowohl das Motiv des Lammes (53,7) wie auch das Motiv der Verdammung (53,3-6) anklingt, dem wir uns im nächsten, dem vorletzten Paragraphen dieser Arbeit zuwenden wollen. Alles weist also darauf hin, wenn wir von einer alttestamentlichen Stelle ausgehen wollen, die am deutlichsten das Schicksal des erniedrigten Messias erhellt, daß wir dann zweifellos von Jes 53 ausgehen müssen.
1. Es ist das wundersame Geheimnis des Erbarmens Gottes, daß er den, der "von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht hat, daß wir würden die Gerechtigkeit Gottes in ihm" (2.Kor 5,21). Die stellvertretende Bedeutung der Verurteilung und des Leidens Jesu wird bei der Taufe Jesu von Johannes dem Täufer deutlich ausgesprochen, wenn er sagt: "Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt" (Joh 1,29). Die tschechische ökumenische Übersetzung erinnert in einer Anmerkung daran, daß der griechische Ausdruck airon, wörtlich 'tragend', zugleich 'aufheben, tragen und wegnehmen' beinhaltet. Das ist die genaue Beschreibung dessen, was Jesus getan hat. Er nahm sich freiwillig unserer Sünde an. Selbst unschuldig, nahm er sie und hob sie auf, trug sie und trug sie weg, oder besser: trug sie auf das Kreuz, wo er Strafe, Verurteilung und Tod dafür auf sich nimmt. Auf diese Weise nimmt er sie denen ab, auf denen sie bisher lag. Das Wort Johannes des Täufers über das Lamm Gottes ist ein freies Zitat von Jesaja 53,7. Dort finden wir das deutlichste alttestamentliche Zeugnis von der Tranweite des stellvertretenden Leidens des Auserwählten Gottes.
2. Vielleicht ist es nicht notwendig, alle Umstände des Prozesses Jesu und seiner Verurteilung vor dem Hohen Rat und vor Pilatus hier zu wiederholen. Wichtig ist. daß es dabei nicht um einen unerwarteten Fehlschlag und ein tragisches Scheitern des Verkünders der Nächstenliebe geht, sondern um etwas, womit Jesus gerechnet hat. Sehr deutlich wird das Mt 16,21 gesagt: "Von dem Augenblick an (da Petrus erkannte, daß Jesus der Messias war) fing Jesus an, seinen Jüngern anzukündigen, daß er nach Jerusalem gehen und viel leiden müsse von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tage von den Toten auferstehen" (Einen ähnlichen Sinn haben die Evangelienstellen über den Eckstein, der von den Bauleuten verworfen wurde Mt 21,47; Mk 12,10; 1.Pe 2,4.7, die sämtlich an Ps 118,22 und Jes 28,16 anknüpfen.) Jesus erkennt deutlich, daß sich in seiner Bestimmung die Aufgabe des Erlösers untrennbar mit Leiden, Verurteilung und Tod verbindet. Das sagt Mt 16,21 mit dem Wörtchen 'muß'. Das heißt nicht, daß Jesus leiden mußte, weil ihm nichts anderes übrigblieb, sondern daß er leiden muß, wenn er nicht auf seinen Auftrag verzichten will. 'Muß' ist also kein Beleg dafür, daß Jesus etwa nicht freiwillig ins Leiden und ans Kreuz gegangen wäre. Das sieht man an der griechischen Wendung im ursprünglichen Wortlaut des Evangeliums. Das Wörtchen dei (= es muß, es ist nötig) hängt etymologisch mit dem Verb deo (= fesseln, binden) zusammen. Das Geschick des Messias, des Erlösers, ist untrennbar verbunden, verflochten mit Leiden, Verurteilung, stelIvertretender Strafe und schmachvollem Tod. Jesus will seinen Jüngern sagen und klarmachen, daß für ihn Messiassein nicht leichten politischen Erfolg bedeutet oder den schmerzlosen Beginn eines neuen Zeitalters, wie sich das damals viele vorstellten. Das Gebet im Garten Gethsemane, seine Bitte, der Kelch des Leidens möge an ihm vorübergehen, und doch zugleich das Bekenntnis der Bereitschaft, sich dem Willen des Vaters bis an die äußerste Grenze unterzuordnen (Mt 26,39.42), zeigen, wie schwer es ihm wird, dieses Schicksal zu tragen, in dem das Werk der Erlösung untrennbar mit dem Todesleiden verbunden ist. Jesus nimmt diese Sendung jedoch an und geht gehorsam und bewußt ans Kreuz (Phil 2,6-8).
3. Jesu Verurteilung und Kreuzigung ist jedoch nicht nur die Vergeltung für unsere Schuld, sie ist zugleich das Herabsteigen in unser Schicksal, in unsere Not, in unser Sterben und in unsere Angst. Darüber schreibt Hebr 4,15: " Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht fähig wäre unsere Schwachheiten mitzuleiden, sondern einen, der geprüft wurde in allem entsprechend der Ähnlichkeit (mit uns) außer der Sünde" - so wörtlich nach dem griechischen Text. Noch deutlicher ist Gal 3,13: "Christus hat uns erkauft von dem Fluch (von der Verdammnis) des Gesetzes, indem er für uns zum Fluch (verdammt) wurde, denn es steht geschrieben: Verflucht (verdammt) ist jeder, der am Holz hängt". Der Sinn des Abschnittes Gal 3,13-14 ist klar. Indem Christus sich kreuzigen ließ, nahm er nicht nur die gesamte Strafe auf sich, sondern das Verfluchtsein selbst, die Verdammnis, die den Übertretern des Gesetzes bestimmt ist. Jesus tritt hier an die Stelle des Bekenners - des Psalmisten, der spricht: "Und ich sprach ...: Ich war verbannt von deinen Augen (Herr), aber du hörtest die Stimme meines Flehens" (Ps 31,23 wörtlich).
Ähnliche Bekenntnisse der eigenen Verdammnis finden wir im Alten Testament häufiger, vgl. Jes 38,11; Jona 2,5, besonders oft in den Psalmen z.B. 31,13; 38,2-12 und allerdings auch bei Hiob, z.B. 23,15-17. Im Zusammenhang damit ist jedoch besonders wichtig, daß der, der die Sünden trägt, nicht nur von den Menschen verdammt wurde (siehe die Stelle vom Eckstein, der verworfen wurde), sondern unmittelbar von Gott. Im Alten Testament findet man diesen Gedanken am deutlichsten in Ps 89. Worum geht es in diesem Psalm? Gott schwört seinem Auserwählten (nach den Versen 4.21.36 David, nach Vers 19.21 und den Wendungen Vers 27-28, die ebenso wie Ps 2 zu den Inthronisationsriten gehören, dem König), daß er mit ihm einen ewigen Bund schließen wolle (3.29.4.40). Trotzdem wurde der Herr zornig über seinen Auserwählten und verwarf ihn. Aus Ps 89 als Ganzem geht hervor, daß der König Stellvertreter ganz Israels ist (V. 16-19), das seiner Sünden wegen erniedrigt wurde, und zwar mitsamt seinem König. Im ältesten historischen Kontext ging es offensichtlich um den Untergang der Königsherrschaft. Aber der Weg Israels und die Verbannung seines Gesalbten, der es vertritt, reicht weit hinaus über den historischen babylonischen Kontext und wächst hinein in das eschatologische Modell. Wie Gottes Gesalbter dieses Verbannungsschicksal trägt, zeigen die Verse 39-52, besonders dann V. 39-40: "Und du (Herr) bist zornig geworden (auf ihn) und hast (ihn) verworfen, du zürnst mit deinem Gesalbten, du hast zerbrochen den Bund mit deinem Knecht, entweiht hast du seine Krone (durch ihren Sturz) zur Erde." - V. 49-50: "Wer wird zum Mann und sieht nicht den Tod? Wessen Seele entkommt dem Zugriff des Totenreiches? Wo ist deine einstige Barmherzigkeit, die du David geschworen hast in deiner Treue?" Im Zusammenhang des ganzen Psalms klingen diese Worte wie bitteres Befremden darüber, wie Gott gerade den verwerfen konnte, dem er seine Zuneigung auf ewig versprochen hatte.
Aus neutestamentlichen Stellen verstehen wir jedoch: Der Gesalbte trat ein in das Schicksal derer, die er vertritt. Er trägt ihre Sünde, ihre Übertretung, ihre Gottlosigkeit. Ps 89 endet allerdings mit einem Lobwort V. 53, scheinbar ohne Zusammenhang mit dem vorhergehenden Absatz über die Verbannung. Aber das ist bezeichnend: Die wunderbare Gnade, die die Verbannung in Befreiung verwandelt, ist eine neue freie Tat Gottes. Jesus ist nicht selbst auferstanden durch irgendeine wundertätige Macht, die er hatte, wenn er heilte. Das ganze Neue Testament wiederholt immer wieder bis zum Überdruß, daß es Gott war, der Jesus auferweckt hat (Apg 2,24.32; 3,15; 13,32-34; Röm 4,24; 8,11; 10,9; 1.Kor 6,14; 15,15; 2.Kor 4,14; Gal 1,1; Eph 1,20; Kol 2,12; 1.Thess 1,10; Hebr 13,20). Mit der Aussage des Psalms 89 stimmt die von Psalm 22 überein, die Jesus am Kreuz wiederholt (Mk 15,34). Jesu Aufschrei ist sicher nicht nur ein versteckter Hinweis auf das triumphierende Ende dieses Psalms (22,23-32). Ob Jesus im Augenblick seines Todes bis zum Ende des Bekenntnisses des Psalmisten gesehen hat, bleibt uns verborgen. Aber daraus, daß er gerade den klar für sich sprechenden Anfang dieses Psalms zitiert, wird deutlich, daß Jesus hier in die letzte menschliche Verlassenheit und Angst hinabsteigt, zu den Pforten des Todes und der Verdammnis der Hölle. Gewichtiger als viele Spekulationen um dieses Geschehen ist, daß Jesus hier trotz der Situation des "Verdammten" nicht von Gott abweicht, sondern ihn anruft mitten aus seinem Verurteiltsein, aus seiner Verlassenheit und seinem Verdammtsein, aus der Tiefe seines Leides und seiner Todesangst. Und Gott, der sich ihm zuerst im Schweigen entzieht (vgl. Ps 28,1; 35,22; 39,13; 83,2), antwortet zuletzt durch eine Tat - die Auferweckung.
Was Psalm 89 und 22 ausdrücken und was hinter dem Aufschrei Jesu am Kreuz steht, ist offensichtlich auch in der scheinbar unauffälligen Wendung Hebr 2,9 verborgen: "durch Gottes Gnade sollte er für alle den Tod schmecken" oder nach der tschechischen ökumenischen Übersetzung "aus Gottes Gnade den Tod erdulden für alle". Wie die ökumenische Übersetzung anmerkt, haben einige Handschriften hier eine besondere Variante: anstelle des "aus Gottes Gnade" lesen sie "ohne Gott". Dahinter steht sicher der Gedanke des Fernseins von Gott, der schon einige Male im Alten Testament anklingt (Ps 22,2.12.20; 35,22; 38,22; 71,12). Dadurch wird angedeutet, daß die Wendung "den Tod schmecken" (griechisch: genesthai thanatu) mehr ist als nur sich dem Tod unterziehen oder einfach sterben. Das Verb "schmecken" ist in der biblischen Sprache verhältnismäßig selten, häufiger ist die Wendung "den Tod sehen" oder "nicht sehen" (Joh 8,51). Analog übersetzt die Kralitzer Bibel an einer anderen Stelle "Leiden sehen" mit "Leiden schmecken" (Klgl 3,1). Der Ausdruck "schmecken" in seiner übertragenen Bedeutung und in Bezug auf Gott steht in der ganzen alttestamentlichen Überlieferung nur in Ps 34,9 "Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist.". Es ist die Frage, ob das hebräische ta`mu nicht nur deshalb hier hingeriet, weil es sich um einen alphabetischen Psalm handelt, das nachfolgende "sehet" re'u korrigiert es gleich und transponiert es auf die andere Sinnesebene. Nichtsdestoweniger wurde diese Stelle zum Ausgangspunkt für die unterschiedlichsten Ansichten ynd Spekulationen; häufig knüpfte hier auch eine Theologie der Erfahrung an, manchmal von der der Ebene der frommen Gefühle weiter in die Mystik übergehend.
Dieses Psalmwort wird in 1.Pe 2,3 zitiert: "... da ihr ja geschmeckt habt, daß der Herr freundlich ist". Wenn Leben nach der Auffassung der Heiligen Schrift bedeutet, Gottes Güte zu schmecken, dann bedeutet den Tod schmecken, sich dem zu unterziehen und das zu ertragen, was zum Tod führt, genauer - zum verdienten Tod als Ausdruck von Verurteilung: Strafe und Verdammnis. Wenn Jesus den Tod auf diese Weise schmeckte, nach der Textvariante sogar ohne Gott, dann beinhaltet dies genau das, was auch sein Aufschrei am Kreuz ausdrückt, nämlich den Abstieg des Verurteilten in die Verdammnis. In Ps 31,23 Ist das alles kurz zusammengefaßt: "Ich sprach: Ich bin von deinen Augen verstoßen. Doch du hörtest die Stimme meines Flehens, als ich zu dir schrie."
Das neutestamentliche Gegenstück zum Bekenntnis des Psalmisten, das sowohl das Gebet in Gethsemane (Mk 14,36) als auch den Aufschrei des Gekreuzigten (Mt 15,34) beinhaltet, ist Hebr 5,7-9: "Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden ... So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden." Das Ergbnis dieser Untersuchung ist in einem klassischen reformatorischen Text, dem Heidelberger Katechismus, kurz zusammengefaßt. Dort lesen wir in Frage 39 (nach der Ausgabe von 1623): "Ist es etwas mehr, daß er ist gekreuzigt worden, denn so er eines anderen Todes gestorben wäre? Antwort: Ja, denn dadurch bin ich gewiß, daß er die Vermaledeiung, die auf mir lag, auf sich geladen habe. Dieweil der Tod des Kreuzes von Gott verflucht war". Und zu Frage 44: "Warum folget Abgestiegen zu der Hellen? Antwort: Daß ich in meinen höchsten Anfechtungen versichert sei, mein Herr Christus habe mich durch seine unaussprechliche Angst, Schmerzen und Schrecken, die er auch in seiner Seele am Kreuz und zuvor erlitten, von der hellischen Angst und Pein erlöset."
In dem gekreuzigten Christus geht es also nicht um einen beliebigen Verurteilten und Verdammten, sondern darum, daß hier der Gesetzgeber selbst verurteilt und verdammt wird. In Jesus Christus steht Gottes Sohn selbst unter dem Gericht und unter der Strafe. Nicht nur ein sündiger Mensch wird hier gerichtet, mit ihm hat sich Christus identifiziert und ist in sein Elend herabgekommen. Er selbst aber ist der höchste Herr, der Geber und Herausgeber des Gesetzes, der ewige Herrscher aller Schöpfung. Das ist das größte Paradox von Ostern.
Die Menschen richten Gott ständig. Sie machen ihn für alles Böse in der Welt verantwortlich. Wenn er der Allmächtige ist, so ist es seine eigene Schuld, wir Menschen können eigentlich nichts dafür. Daß das eine falsche Schuldzuweisung ist, wissen alle, die mit dem Psalmisten nicht vergessen haben, daß zwar "der Himmel der Himmel des Herrn ist, er jedoch den Menschen die Erde gegeben hat" (Ps 115,16) und die haben das hier angerichtet. Gott aber läßt sich richten und schweigt zu dem Gericht wie Jesus vor Pilatus. Wofür wird er eigentlich gerichtet? Für seine Liebe zu denen, die ihn kreuzigen. Für seine Demut gegen die, die ihn verurteilen. Für die menschlich unvorstellbare Geduld, mit der er uns in Christus wieder und wieder zur Liebe ruft, mit uns Nachsicht hat und den Zeitpunkt des Gerichts hinausschiebt. Für seine Wehrlosigkeit, durch die er sich ans Kreuz von Golgatha schlagen ließ, durch die er sich aber neu kreuzigen läßt, wenn wir Menschen sie verantwortlich machen für etwas so Unmenschliches wie die Menschheitsgeschichte. Der verborgene Gott (Jes 45,15 - Deus absconditus) ist vor allem der Gott, der schweigt zu dem menschlichen Urteil wie Jesus vor seinem Richter (Mt 26,63; Mk 14,61), der Gott, der in Christus herabgestiegen ist an den Ort des Schweigens - ins Grab. Der Glaube allerdings weiß. daß das alles eine Vorspiel des Ostermorgens ist, des ruhmreichen Sieges über Teufel, Hölle und Tod, der unserem Leben bis heute und für immer unaussprechlicne Freude (1.Pe 1,8) und einen unzerstörbaren Sinn verleiht.
Wurde Gott wirklich zum Feind für Jesus, der unsere Sünde trägt? Die ganze Kirchengeschichte ist voller dogmatischer Erwägungen darüber, ob, inwieweit, wie und warum. Bleiben wir bei der einfachen biblischen Botschaft: Gott ist der Feind der Sünde, die Jesus trägt. Es ist die Last unserer Sünde, offenbart durch das Gesetz, unter der Jesus hier nicht nur in den Tod sinkt, sondern auch in das Grauen des Todes, in die letzte Verdammnis, Verurteilung und Verlassenheit und so dem letzten Feind ausgeliefert wird (1.Kor 15,26). Wichtig ist jedoch, daß das alles nicht das Ende ist, sondern nur der erste Teil des Ostergeschehens. Das sagt Gott übrigens schon in Vorwegnahme durch den alttestamentlichen Profeten (Jes 54,7-8): "Für eine kleine Weile habe ich dich verlassen, aber in übergroßem Erbarmen will ich dich sammeln. Im Augenblick des Zorns habe ich mein Angesicht ein wenig vor dir verborgen, aber in ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser." Der Leser wendet vielleicht ein: Aber bei Jesaja geht es doch um Israel! Ja, aber Israel ist das Modell - auf der einen Seite das Modell der Menschheit, die Gottes Berufung trägt, auf der anderen Seite das Modell des Christus, des Auserwählten Gottes. Wann immer Israel das Leiden angenommen und getragen hat, es nicht abgelehnt und sich dagegen gewehrt, hat es die Rolle übernommen, die das Osterlamm vollkommen erfüllt hat, der ausgelieferte Knecht und der verdammte Verurteilte.
Das ist der Kern des Evangeliums selbst. Es bedeutet, daß wir, woher auch immer, zu Gott rufen können, unter dem Kreuz, aus der Knechtschaft, ja auch als Verurteilte und Verfluchte, wenn wir uns so fühlen. In diesem allen sind wir nicht allein. In allem ist der Erniedrigte und Erhöhte mit uns, der Herabgekommene und der Triumphierende, der Stein, den die Bauleute verworfen haben, und der doch wie kein anderer von des Vaters Armen umschlossen ist.
Das siegreiche Paradox des Glaubens besteht darin, daß gilt, was Gott in Christus getan hat und noch tut trotz aller unserer Vorstellungen und Zweifel, trotz dem und ohne Rücksicht darauf, was ich selbst noch fühle und durchlebe, wenn mir im alten Äon das Vertrauen fehlt. Die Hoffnung des Glaubens ist Hoffnung gegen die Hoffnung, also gegen die menschliche Erwartung. Und das bedeutet, daß ich in Christus hoffen darf trotz meiner menschlichen Unfähigkeit, von Gott noch etwas Gutes zu erwarten. Wenn ich schon etwas von Gott erwarte, ist es ein Zeichen dafür, daß an meinem Herzen der Heilige Geist bereits zu arbeiten begonnen hat.
Anders gesagt, es bedeutet, daß ich mich auf nichts verlassen muß in mir und aus mir, daß ich hoffen darf, daß ich von allem befreit werde, worin ich noch schwanke oder womit ich mich vielleicht noch herumschleppe, nur und nur durch Christus zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes (Röm 8,21). Christus ist nicht nur da mit uns, wo wir das schon erkennen, wo wir ihm glauben und ihn anbeten und loben; das ist die Antwort auf seine Nähe, aber keineswegs ihre Bedingung! Sondern er ist auch da mit uns. genauer: er ist uns nahe auch da, wo wir noch nicht zu ihm durchblicken, wo wir noch zweifeln und ihm Vorwürfe machen, vor allem seines Kreuzes wegen. Bis wir dann erkennen, daß er es uns auferlegt (Mt 16,24) und wir es aus seiner Hand nehmen und es uns leicht wird (Mt 11,30).
In allem unseren Leiden und in unserem Scheitern kann es dann ein besonderer Trost sein und eine besondere Hoffnung, daß sich Christus gerade noch vom Kreuz her an seinen Vater gewandt hat, aus der Mitte seines Elends, vom Ort der Verurteilung, Erniedrigung und Verfluchung. Darum dürfen auch wir gerade unter dem Kreuz Gott anrufen in der Hoffnung gegen die Hoffnung (Röm 4,18), ja unter der Last unseres Unglaubens (Mk 9,24). Der biblische Glaube ist ein Glaube des Trotzdem: Trotz seiner unendlichen Erhabenheit ist Gott in die Tiefe des menschlichen Elends hinabgestiegen, trotz seiner Heiligkeit ließ er sich verurteilen und unterstellte sich dem Fluch des Sünders, trotz seines Kreuzestodes ist er auferstanden und regiert er. Und so dürfen wir glauben trotz allem, was wir um uns herum vor Augen haben (2.Kor 5,7) und trotz all dem hoffen (Röm 8,24), was uns unsere Augen und unser Herz rät (Pred 9,3; Mt 15,18).
Trotzdem!
[2] Theologie des Alten Testaments II, München 1960, S. 374
[3] Seybold, ThWzAT V, 50: Hesse = kanaanäisch; Kutsch = hethitisch; de Vaux = ägyptisch.
[4] Siehe A. Schlaffer. Israels Geschichte von Alexander d. Großen bis Hadrian, Stuttgart 1901, 119
[5] Die Bedeutung der Kondeszendenz bei den Reformatoren und in der nachreformatorischen Theologie wurde mehrfach untersucht: K. Gründer, Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns "Biblische Betrachtungen" als Ansatz einer Geschichtsphilosophie, Freiburg-München 1958 - das zweite Kapitel dieses Buches trägt die Überschrift "Kondeszendenz und Geschichtlichkeit" (S. 21-92) und beschäftigt sich mit dieser Problematik; H. Lauerer, Die Kondescendenz Gottes, in: Festschrift f. Ihmels, Leipzig 1928, S. 258-272, spricht sich für die Kondeszendenz als Ausgangspunkt und Grundlage einer neuen oder erneuerten spezifisch lutherischen Spiritalität aus.
[6] K. Barth, Kirchliche Dogmatik, nach dem Register geht es um folgende Stellen: Bd. IV/1: S. 49, 141, 172f, 184, 193, 196 (dort ein Exkurs über Phil 2,7), 211, 217, 391, 710 (dort ein Exkurs über 2.Kor 8,9), 824; Bd. IV/2: S. 45, 110.
[7] K. Barth, Kirchliche Dogmatik IV/1, S. 824.
[8] K. Barth, Kirchliche Dogmatik IV/2, S. 45.
[9] M. Stöhr, Thesen zur Hermeneutik des christlich-jüdischen Gesprächs und des Alten und Neuen Testaments, 5. 3. 1990, S. 2, Absatz II,4.
[10] Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, Frankfurt 1937; Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Neuausgabe München 1970, S. 382ff; Franz Alt, Jesus, der erstehe neue Mann, München 1989.
[11] M. Stöhr a.a.O., S. 3, II,8.
[12] J. M. Lochman, Freiheit in der Perspektive der Philosophie Karl Jaspers und in biblischer Sicht, in: Transzendenz und Gottesname, Festschrift für K. Jaspers, ed. R. Piper, München 1986, S. 20.
[13] Jan Heller, Anthropomorphismen, Theriomorphismen und Chrematomorphismen im Alten Testament, in: De servitute oratiosa. Festschrift für M. Pakozdy, Berlin 1981, S. 16-44.
[14] S. Danìk, Krise kritiky, VID 1,26.
[15] Vgl. J. Heller, Starovìka nabo¾enství, S. 62ff.
[16] Die himmlischen Erscheinungen (Sonne, Wolke usw.) und die irdischen, nicht gegenständlichen Erscheinungen (Feuer uÄ.) werden hier übergangen; da sie zum Teil jenseits des begrifflich Erfaßbaren stehen.
[17] Ausführlicher zur Frage der Anthropomorphismen und ihrer Abwandlungen in den Textschichten in meinem Aufsatz: Jan Heller, Die Übersetzungsverfahren der Septuaginta" erklärt, veröffentlicht in: Studien und Texte der Comenius-Fakultät, Nr. 2, Miscellanea, Praha 1979, S. 7-53.
[18] M. Schmaus, Artikel "Ämter Christi" in der großen römisch-katholischen Encyklopädie Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Ausgabe, 1957ff; I. Teil, S. 457-459; weiter L. Schick, Das munus triplex - ein ökumenisches oder kontroverstheologisches Theologumenon?, Cath 37,1983. S. 94-118; E. Schlink, Ökumenische Dogmatik 1983, S. 411-415. Dort ist weitere Literatur angegeben.
[19] In Folgenden stütze ich mich auf die sehr informative und gehaltvolle Arbeit von Karin Bornkamm, Die reformatorische Lehre vom Amt Christi und ihre Umformung durch Karl Barth, in: Luther und Barth, Veröffentlichungen der Luther-Akademie Ratbeburg. Bd 13, Erlangen 1989, S. 127-157.
[20] Nach allem, was wir inzwischen in ökumenischen Gesprächen gelernt haben, mag es hier angebracht sein zu bemerken, daß auch manches, was uns möglicherweise als leeres Zeremoniell erscheint, für einen Orthodoxen oder Katholiken durchaus Verkündigung durch eine heilige Handlung sein kann.
[21] Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der reformierten Kirche, hrsg. von W. Niesel, 2. Auflage, Zürich 1938, S. 6.
[22] Nur Alsted und Wollebius haben sich dieser Tendenz entziehen können. Wendelin versuchte sogar die drei Ämter und die Lehre von den beiden Ständen, der Erniedrigung und der Erhöhung Christi, in einer Art Tabelle unter der Überschrift "officium Christi" zu verarbeiten - vgl. Realencyklopädie 8,335f.
[23] An diesen Gedanken knüpfte in unserem Jahrhundert der Schweizer Alttestamentler Walter Eichrodt in seiner großen Theologie des Alten Testaments an. Von Coccejus selbst war schon in § 14 bei der Erklärung der Typologie die Rede.
[24] Heinrich Heppe, Dogmatik des deutschen Protestantismus im 16. Jahrhundert, Gotha 1857.
[25] Heinrich Heppe, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, Elberfeld 1861, Bd. 2, S. 209-224. - Das ist jene bekannte Dogmatik, die wie auch andere Schriften desselben Autors von Karl Barth entdeckt und mit seinem Vorwort 1934 neu herausgegeben wurde. Sie gewann große Bedeutung für die theologische Atmosphäre der dreißiger und vierziger Jahre unseres Jahrhunderts, als die deutsche evangelische Kirche im Kampf gegen die Naziherrschaft stand. Ausführlicher darüber: Ludìk Bro¾, Cesta Karla Bartha, Praha 1988, S. 51ff.
[26] Eine zusammenfassende Analyse seines Verständnisses der Ämter Christi bietet, wie bereits erwähnt Karin Bornkamm, a.a.O., S. 127-157. Ich stütze mich hier besonders auf die Seiten 139-146. In den Anmerkungen finden sich auch Hinweise auf weitere Schriften und Veröffentlichungen Barths.
[27] K. Barth, Kirchliche Dogmatik, IV/1, S. 135-140.
[28] In der Kirchlichen Dogmatik dazu folgende Absätze: Bd. IV/1: S. 148; Bd. IV/2: S. 173, 587f und 827; Bd. IV/3: S. 3-40.
[29] K. Barth, Kirchliche Dogmatik, IV/1, S. 151 und IV/3, S. 6.
[30] Auch Mose wird häufig Knecht genannt. Jesus ist also nach der Apostelgeschichte ein "neuer Mose", der die Verheißung erfüllt: "Einen Propheten wie mich wird dir der HERR, dein Gott, erwecken aus dir und aus deinen Brüdern; dem sollt ihr gehorchen" und "Ich will ihnen einen Propheten, wie du bist, erwecken aus ihren Brüdern und meine Worte in seinen Mund geben; der soll zu ihnen reden alles, was ich ihm gebieten werde." (Dtn. 18,15.18).